Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen

„Die Tränen der Dinge“
Edmund de Waal ist ein renommierter Keramikkünstler und Professor. Anhand von 264 Netsuke – kleinen geschnitzten japanischen Figuren, mit denen Lackdosen am Kimonogürtel befestigt wurden – erzählt er die bewegende Geschichte seiner Vorfahren. Geerbt hat Edmund die wertvollen Kleinode von seinem Großonkel Ignaz, in Familienbesitz gekommen sind sie schon in den 1870er-Jahren. Sie waren dabei, als die jüdische Bankiersfamilie Ephrussi in unendlichem Reichtum lebte, sie mussten ihren Untergang mitansehen. Wie ein „melancholischer kunsthistorischer Privatdetektiv“ folgt Edmund de Waal ihrer Spur, verbringt viel Zeit in Bibliotheken und Archiven, spaziert durch Paris, Wien und Odessa und versucht, ein Gefühl zu bekommen für eine längst versunkene Zeit. Er tut dies mit wunderbarer Sorgfalt und viel Gefühl: „Die frisch verheirateten Eheleute, meine Urgroßeltern, haben einen Logensitz an der Ringstraße, einen Logensitz mit Blick auf das neue Jahrhundert. Und die Netsuke – mein schlafender Mönch, über seine Bettlerschale gebeugt, der Hirsch, der sich am Ohr kratzt – haben ein neues Heim.“ Er folgt ihnen durch ein dunkles Kapitel, das dunkelste in der jüngeren europäischen Geschichte: Der Antisemitismus – schon im 19. Jahrhundert (und davor) deutlich spürbar – gipfelt in Holocaust und Zweitem Weltkrieg. Die Ephrussi verlieren alles, Würde und Ansehen, Geld und Gesellschaftsstand: „Mit seiner Unterschrift gibt Viktor alles her, das Palais und was darin ist, seine weiteren Vermögenswerte in Wien, alles, was sich durch den Fleiß einer Familie gesammelt hat, hundert Jahre Besitz.“ So kommt Viktor, Edmunds Großvater, mit dem Leben davon, doch er ist gebrochen. Die Netsuke sind – so scheint es – zusammen mit allem anderen im riesigen Schlund der Nazis verschwunden. Aber sie tauchen wieder auf, vollzählig gerettet, sie kehren zurück nach Japan, sie bewahren ihre Erinnerungen an spielende Kinderhände, an rauschende Feste, an Krieg und Tod. Ihrem neuen Besitzer Edmund de Waal erzählen sie, was sie erlebt haben, er hört ihnen zu – und gibt ihre aufwühlende Geschichte in Der Hase mit den Bernsteinaugen weiter.

Als ich 13 war, habe ich mit großer Leidenschaft Biografien gelesen, über die Habsburger und die Romanows, über Kaiser und Könige. Edmund de Waal entführt mich zurück in diese Zeit, er nimmt mich mit in die Welt seiner Ahnen, in prächtige Palais, auf Kutschenfahrten. Ich flaniere und diniere mit den Ephrussi, höre das Rauschen der Damenröcke, das ungeduldige Scharren der Kinderfüße beim Nachmittagstee. Sie sind reich, sehr reich, sie besitzen Geld und Kunst, und sie sind jüdisch. Die Stimmung jener Zeit ist geladen von Missgunst und Neid, die zu gedankenloser Gewalt wird, die – ich ahne es die ganze Zeit – ein jähes Ende bringt: „Am 23. April wird ein Boykott jüdischer Geschäfte ausgerufen. Am selben Tag kommt die Gestapo ins Palais Ephrussi.“ Dies ist ein Buch über Besitz und Verlust, über Integration und Assimilierung, über Reichtum, Krieg und die Vergänglichkeit aller Dinge. Vielleicht kann nur jemand, der selbst Dinge herstellt, mit einer solchen Einfühlsamkeit und so viel Verständnis über den Wandel der Zeit und der Mode sowie das Sammeln von bleibenden Erinnerungen schreiben. Mit ungeheuerlicher Wehmut, aber auch viel Mut zum Loslassen berichtet Edmund de Waal von den Menschen, die ihm vorangingen, er lernt sie alle einzeln kennen, ergründet ihre Eigenschaften und Vorlieben, durchleuchtet ihre Leben. Manchmal kommen ihm Zweifel: „Ich verwandle reale Begegnungen in gepresste Blumen“, und doch wird er seinen Vorfahren mit jeder Zeile dieses wunderbaren, sentimentalen, feinsinnigen Buchs gerecht. Es geht darin um Kunst und ihren Wert, um Liebeleien und kleine Skandale, um die unendliche Gier der Menschen. Dieses Buch ist wie eine zärtliche Geste, wie ein Streicheln, ein wissendes Lächeln; es ist wie ein Moment, in dem alles offenbart ist, bevor die Zeit ihn fortwischt. Schade ist, dass Edmund de Waal nicht auf seine Eltern eingeht – doch das liegt vermutlich daran, dass sein Vater die Netsuke nie hatte. Am Ende des Buchs schließt sich der Kreis ganz meisterhaft mit dem Ausgangspunkt. Erwähnenswert sind auch die neun beigelegten Karten mit Fotografien der Netsuke. Der Hase mit den Bernsteinaugen ist eine stille Anklage, eine Hymne an das Leben, das immer, immer weitergeht, und es ist mit Abstand die emotionalste und daher beste Biografie, die ich je gelesen habe.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schlichtes, klares, schönes Cover.
… fürs Hirn: der ewige Kreislauf aus Neid und Hass, der die Menschheit regelmäßig ins Verderben reißt – ohne dass sie jemals dazulernt.
… fürs Herz: die Wehmut, die durch das ganze Buch schimmert, das Wissen um die eigene Vergänglichkeit.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: „Nur weil man etwas hat, bedeutet das nicht, dass man es weitergeben muss. Etwas zu verlieren kann manchmal Raum schaffen, in dem man leben kann.“

Dieser Roman ist nominiert für den „M Pionier“-Buchpreis der Mayerschen Buchhandlung!

2 Gedanken zu “Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen

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