Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner

„Wir sind eine Familie von Geschichtenerzählern“
„In meiner Familie lernt man sich oft sehr spät kennen und manchmal überhaupt nicht. Dafür wird sehr viel über andere Familienmitglieder nachgedacht, vor allem dann, wenn man nichts über sie weiß oder lieber nichts wissen will. Und es werden Geschichten erzählt, bei denen man nie sicher sein kann, ob sie wahr sind oder nicht und wer sie erfunden haben könnte. Denn das, was andere Familien ihren Stammbaum nennen, ist bei uns eine Art Sudoku, an dem seit Jahren gearbeitet und vor allem herumradiert wird, weil jedes Mal ein anderes Ergebnis herauskommt.“ Die 16-jährige Lily interessiert sich für ihre Wurzeln – vor allem für ihren Großvater Jószef Molnár, genannt Joschi. Er hatte fünf Kinder von verschiedenen Frauen: Dier ersten beiden wurden von den Nazis ermordet, die anderen drei treffen sich an Joschis hundertstem Geburtstag, um eine kleine Gedenkfeier für ihn zu veranstalten. Sie heißen Hannah, Gabor und Marika – die Mutter von Lily – und haben Joschi in ihrer Kindheit jeweils ganz anders wahrgenommen. Joschi hielt wenig von Treue und Ehrlichkeit, sodass seine Kinder fast gleich alt sind – und kaum etwas von ihm wissen. Ein Vater war er ihnen allen nicht, und so hadern sie noch 30 Jahre nach seinem Tod mit unaufgearbeiteten Verletzungen. Gemeinsam besuchen sie das Konzentrationslager Buchenwald, in dem Joschi einst gefangen war, und diskutieren über Wahrheit und Lüge in der Lebensgeschichte des Mannes, der ihr Schicksal so stark geprägt hat. War Joschi wirklich in Buchenwald? War er überhaupt Jude? Antworten können sie nicht finden, aber etwas, das vielleicht noch besser ist: Frieden.

In Ein fabelhafter Lügner lässt die deutsche Autorin mit jüdisch-ungarischen Wurzeln die sogenannte dritte Generation einen Blick auf den Holocaust werfen. Ich-Erzählerin Lily ist 16 und gerade dabei, ihren Charakter auszubalancieren, hört gern Musik und schwärmt für einen jungen Lehrer an ihrer Schule. Von einem jüdischen Großvater abzustammen, ist Teil ihrer Identität, doch ihre pubertäre Sichtweise stellt dies in ein recht banales Licht. Während der Lektüre sehe ich mich selbst im Alter von 14 Jahren im Konzentrationslager Mauthausen stehen, voller Tränen, umgeben von leeren Gebäuden, die wispern, und niedergedrückt von einer Schuld, die nicht die meine war. Deshalb und wegen des teenagerhaften Tons vermittelt dieser Roman mir das Gefühl, dass er eigentlich ein Jugendbuch ist und mich mit 14 sicher viel mehr angesprochen hätte. Jetzt aber habe ich meine Schwierigkeiten mit der durchaus authentischen, aber teilweise allzu platten Betrachtungsweise Lilys: „Ach ja, mein Buchenwald-Referat. (…) Ich gestehe, ich genieße es manchmal, wenn ich sagen kann, dass mein Großvater Jude war und im KZ gesessen hat. Wer einen jüdischen Großvater hat, ist automatisch bei den Guten, jedenfalls in meiner Schule. (…) Ich bin ein Opfer der dritten Generation, und deshalb hielt ich es für eine gute Idee, meinen Notendurchschnitt mit einem leidenschaftlichen Beitrag über das Konzentrationslager Buchenwald anzuheben, wenn ich ohnehin schon mal da war.“ Obwohl mich das Triviale – auch wenn es natürlich der Wahrheit entspricht! – an Lilys Erzählung stört, rechne ich der Autorin an, dass sie die Geschichte sehr konsequent aus der Perspektive einer Jugendlichen erzählt, dass die Dialoge flott sind und die Charaktere interessant. Drei Menschen, die nicht befreundet sind, aber verwandt, kommen zusammen und stochern in ihrer Vergangenheit herum. Ein fabelhafter Lügner ist ein Buch über einen Lebemann, über Fabulieren und Erfinden, über das Jüdischsein und Identität. Es ist ein nettes, liebes, harmloses Buch mit der Tonalität eines Schulaufsatzes, flüssig, ironisch, ehrlich, aber eben auch belanglos.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schlichtes, sehr stilvolles Cover.
… fürs Hirn: die abgeklärte Sichtweise der dritten Generation auf die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg.
… fürs Herz: der Besuch in Buchenwald.
… fürs Gedächtnis: nichts, für mich zu banal.

5 Gedanken zu “Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner

  1. synaesthetisch schreibt:

    Die erste Hälfte deiner Rezension hat mich auf ein spannendes Leseerlebnis hoffen lassen – aber harmlose Bücher gibt’s genug, Belanglosigkeit zu viel auf der Welt. Danke also fürs Abraten in diesem Fall 🙂

  2. Mariki schreibt:

    Ja, so wirklich Saft und Kraft hat das Buch nicht 😉 Ich fürchte, die Wahl der Erzählperspektive war nicht die beste. Wobei der Roman sonst auch ein ganz anderer geworden wäre, weshalb man das natürlich nicht so pauschal festhalten kann. Wie auch immer – Begeisterungsstürme wurden bei mir nicht ausgelöst, deswegen lieber abraten als empfehlen!

  3. Bibliophilin schreibt:

    Ich habe heute zum zweiten Mal versucht, das Hörbuch zu hören. Und bin gescheitert. Und ich habe es abgebrochen. Der Anfang war recht lustig, die Idee gar nicht so übel, aber es wurde nach und nach lagweiliger und ich habe beschlossen, mich anderen Büchern zu widmen. Bei FB hat mich Flattersatz daran erinnert, dass Du das Buch rezensiert hast 😉 Ihm hat es wohl gefallen.
    Ich erlebe gerade wieder mal eine kleine Buch-Enttäuschung, aber dazu später/bald mehr…

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