„Wenn Hoffnung einen Geruch kennt, dann ist es der Duft der Kinder“
Wilhelmine ist über 90 Jahre alt und seit einem Sturz von der Leiter bettlägrig. Ihr Neffe Dieter und dessen Frau Karin kümmern sich nur widerwillig um sie, es ist ihnen eine lästige Pflicht. Deshalb holen sie die junge Krankenschwester Jelisaweta aus Russland ins Haus, damit sie die Pflege der alten Frau übernimmt. Für Jelisaweta sind die 700 Euro, die sie bei Wilhelmine verdient, ein Vermögen, und der Aufenthalt ist ihr eine willkommene Abwechslung zum Leben mit der anstrengenden, selbstsüchtigen Mutter. Während Wilhelmine ihrer neuen Pflegerin anfangs dankbar ist und sie freundlich behandelt, ändert sich das schlagartig, als sie Jelisaweta Russisch sprechen hört. Tief vergrabene Erinnerungen an den Krieg, an Nächte im Bunker und an die Todesangst werden in ihr wach – und sie will die „Drecksrussin“ nicht mehr im Haus haben. Sie kann sie aber, hilflos, wie sie ist, nicht loswerden, und so beginnen die beiden, einander zu traktieren, zu beschimpfen und zu ignorieren. Jelisaweta kann sich zuerst keinen Reim auf Wilhelmines Boshaftigkeit machen und reagiert ihrerseits mit Gemeinheiten, kommt dann aber langsam hinter das Geheimnis der alten Frau, das mit einem verschütteten Trauma zu tun hat und einem Kind, das schon lange tot ist …
Die deutsche Autorin Eva Baronsky entwirft in Magnolienschlaf ein unangenehmes, instabiles Szenario, das geprägt ist von Unverständnis und einer blutigen Vergangenheit. Die Gegenspielerinnen sind eine alte Deutsche, die den Krieg selbst erlebt und die Russen als plündernde, brutale Meute erlebt hat, und eine junge Russin, die im Gegenzug eine ganz persönliche Geschichte mit vergewaltigenden deutschen Soldaten im Gepäck hat. Klarerweise ist das eine explosive Mischung – die umso mehr zündet, als die beiden sozusagen in einem Haus zusammengesperrt sind. Dies ist ein sehr spannungsgeladenes Buch, das dem Leser – in diesem Fall mir – aufs Gemüt schlägt. Die Motive der Protagonistinnen finde ich ein wenig steif, die klischeehaften Formatvorlagen, auch wenn die Autorin bemüht ist, sie mit möglichst vielen Emotionen zu füllen. Was Eva Baronskys Stil betrifft, so habe ich daran nichts auszusetzen, er ist glatt, griffig, sehr trittsicher und rutschfest, aber auch nichts Besonderes. Manche Sätze mag ich außerordentlich, wie etwa: „Sie hat eine Stimme wie aufgekrempelte Hemdsärmel und Mut für zwei Kerle“, aber davon gibt es nicht allzu viele. Dennoch hätte ich Magnolienschlaf wohlwollender im Gedächtnis behalten, wäre das Ende ein anderes gewesen. So aber spüre ich, kaum ist das Geheimnis gelüftet, einen großen Unwillen in mir, es zu glauben, nein, ich fühle mich auf den Arm genommen, die ganze Geschichte fällt über mir zusammen, begräbt mich. Was bleibt: Magnolienschlaf ist gut geschrieben und intelligent, aber wegen der 08/15-Wie-schrecklich-war-der-Krieg-Begründungen auch öde, wegen der Konzentration auf das Innenleben der Figuren seltsam handlungsfrei und insgesamt nicht überragend.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: das Cover hat eine schöne Farbe und ist gut gemacht.
… fürs Hirn: die Diskrepanz zwischen Alt und Jung, unüberwindbare Grenzen, alte Traumata, der Unwille, zu verzeihen – auch Jahrzehnte später.
… fürs Herz: wenig bis nichts, die Geschichte der alten Frau rührt mich nicht, weil sie mir nicht glaubwürdig erscheint – welche Mutter würde so handeln, nur auf Verdacht?
… fürs Gedächtnis: Mein Lieblingszitat: „Wenn man irgendwo verrückt werden kann, dann auf dem Land.“