Anne Enright: Anatomie einer Affäre

„Es ist verblüffend, wie nah man jemandem kommen kann, indem man völlig stillhält“
Sie begegnen einander mehrere Male, bevor auf einer Geschäftsreise etwas passiert: Gina, verheiratet mit Conor, und Seán, Ehemann von Aileen und Vater von Evie. Als es dann passiert, ist der erste Sex der Auftakt zu einer klassischen Affäre mit allem Drum und Dran – heimlichen Treffen im Hotel, erregenden Begegnungen, Flirts, Lügen, Schuldgefühlen. Je mehr Gina sich Seán zuwendet, umso mehr schwindet ihre Liebe zu Conor. Und Seán, der sich gefangen fühlt in einer lieblosen Ehe, sieht in Gina eine Chance auf etwas Neues, aber er hat ein Kind, das krank ist, ein Kind, das er liebt. Ausbrechen wollen sie beide aus ihrem Leben, aber nicht unbedingt so, wie es schließlich geschieht – so gewöhnlich, mit Geschrei, Schuldzuweisungen und Tränen, so banal. „Ich dachte, es würde ein anderes Leben werden, aber manchmal ist es dasselbe Leben in einem Traum: Ein anderer Mann kommt zur Tür herein, ein anderer Mann hängt seinen Mantel an den Haken.“ So drückt Gina aus, was die beiden schließlich einholt: der Alltag.

Anatomie einer Affäre ist genau das, was der Titel verspricht: Die mehrfach ausgezeichnete irische Schriftstellerin Anne Enright seziert in diesem Buch eine Affäre, schneidet sie auf, durchleuchtet sie von allen Seiten, wiegt sie ab, legt ihre Knochen frei. Sie tut dies durch das Blickfeld von Ich-Erzählerin Gina, selbst Teil der Affäre und deshalb diesem durchaus schmerzhaften Prozess unterzogen. Die Reihenfolge ist nicht richtig chronologisch – immer wieder greift sie vor, zieht die Zukunft in die Vergangenheit, sodass man schon am Anfang mehr oder weniger weiß, wie es enden wird. „Würde man mich heute fragen, würde ich natürlich sagen, dass ich von jenem ersten Blick an verrückt nach ihm war, dass ich in seine Hände verliebt war, als ich in Montreux ihren Bewegungen folgte, und dass ich von dem Moment an, als er Evie wegführte und sich in der Diele zu mir umwandte, noch in etwas anderes verliebt war – in seine besondere Art von Traurigkeit, worin auch immer diese bestand. Also fragen Sie mich nicht, wann dieses oder jenes geschah. Auf ein Vorher oder Nachher scheint es nicht anzukommen. Was mich betrifft, so geschah es die ganze Zeit über.“ Das ist ein Stilelement, dem ich für gewöhnlich wenig abgewinnen kann, genauso wie dem direkten Ansprechen des Lesers, aber ich verzeihe es Anne Enright gern, weil sie so glänzend schreibt und weil der letzte Teil des Buchs – auch wenn er ein wenig schwächer ist als der Beginn – dann doch noch überrascht und mit einem perfekten letzten Satz, einem kleinen Knalleffekt am Schluss, aufwartet. Enrights Stil ist in diesem Roman verblüffenderweise flapsig und poetisch zugleich, eine höchst interessante Mischung.

Protagonistin Gina ist eine kluge junge Frau in einer halbwegs stabilen Ehe und mit einem öden Job, die darüber nachdenkt, ein Kind zu bekommen. Seán ist ein ungewöhnlicher Mann, attraktiv und ein wenig manipulativ, bei dem man nie genau weiß, woran man ist. Er zieht Gina an sich, stößt sie wieder weg, die beiden beginnen ein Seilziehen um eine Entscheidung, die ihnen letztlich abgenommen wird. Einen Scheinwerfer richtet Anne Enright auf diese Beziehung, zeigt sie ganz schonungslos bis ins letzte Detail: die anfängliche Aufregung, der Betrug, der schale Geschmack, der bleibt. Dieser Abgang bedeutet einen relativ dürftigen Schluss für das Buch, macht es aber auch originell: Reden monogam lebende Menschen darüber, wie es wäre, einen anderen im Bett zu haben als den, der da seit Jahren liegt, fällt früher oder später der Satz „Nach zwei, drei Jahren wäre es doch mit dem anderen genauso langweilig“. Anne Enright setzt diese „Volksweisheit“ literarisch um und führt eine Affäre weiter, bis über den Rand hinaus, lässt Prinz und Prinzessin den Alltag erleben. Bereits in The Gathering, einem unheimlich starken und lesenswerten Roman, hat sie mir bewiesen, dass sie ihr Werkzeug, die Sprache, überragend gut beherrscht, es als Waffe einzusetzen weiß. Sie ist die Pathologin unter den Autoren, und auf ihrem Tisch liegen Familien, die sie in ihre Einzelteile zerlegt, nur um zu zeigen: Das hing doch ohnehin kaum noch zusammen. Anatomie einer Affäre ist ein sehr erwachsener Roman, der Lebens- und Beziehungserfahrung voraussetzt, ein sehr authentischer, schlauer und abgeklärter Roman, in dem das Leben alles ist, was es nur sein kann – erstaunlich, erniedrigend, erfüllt – , außer ein Wunschkonzert.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein schlichtes, sehr passendes Cover.
… fürs Hirn: die Frage: Warum kann das Feuer nicht ewig brennen?
… fürs Herz: auf dem OP-Tisch liegt eine Liebe, und Anne Enright untersucht mit dem Eifer eines neugierigen Kindes, ob ihr Herz schlägt.
… fürs Gedächtnis: Anne Enrights Talent.

Anatomie einer Affäre von Anne Enright ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04540-9, 320 Seiten, 19,99 Euro).

7 Gedanken zu “Anne Enright: Anatomie einer Affäre

  1. caterina schreibt:

    Bücher, die Affären – bzw. deren unweigerliches Aufs-Ende-Zulaufen – sezieren, mag ich, sie haben immer eine besondere Schwere, Melancholie. Ein solches ist auch (wie der Titel schon sagt) Das Ende einer Affäre von Graham Greene. Es ist ein so existenzielles, so menschliches Motiv, über das es immer wieder nachzudenken, zu schreiben, zu lesen lohnt.

  2. Mariki schreibt:

    Oh, ich bilde mir ein, dass ich das Buch auf meinem SuB habe – bin mir aber nicht zu 100 % sicher, weil es auf Englisch ist (zwecks Titelunübereinstimmung). Bei einer sehr jungen Bloggerin hab ich gelesen, dass sie mit dem Buch gar nichts anfangen konnte und eher angewidert war. Sie meinte, außer Evie sei keiner unter 40. Lustige Wahrnehmung, denn Gina ist 32. Es ist sicher ein Buch, das mit dieser Melancholie, wie du richtig sagst, nicht alle anspricht.

  3. caterina schreibt:

    Der Originaltitel ist fast 1:1 derselbe: The End of the Affair. Ich habe es damals auch zuerst auf Englisch gelesen, allerdings war das Buch aus der Bibliothek ausgeliehen, für mein eigenes Bücherregal habe ich mir etwas später eine ziemlich reizlose deutsche Ausgabe ersteigert. Irgendwann kommt die wieder raus und ich kehre zum englischen Original zurück.

    Hihi, dann hätte diese sehr junge Bloggerin, die du erwähnst, ihren Spaß mit Alles über Sally, eher die Anatomie einer Ehe denn einer Affäre (obwohl natürlich auch eine solche eine Rolle spielt): Die Protagonisten sind alle über 50!

  4. Klappentexterin schreibt:

    Liebe Mariki,

    ich war ebenfalls wieder begeistert von der Autorin, bin aber nicht wie du über das Ende gestolpert. Ich fand das Buch von vorn bis hinten eindrucksvoll und werde demnächst auch bei mir meine Gedanken dazu veröffentlichen.

    Es grüßt dich herzlichst,

    Klappentexterin

  5. Mariki schreibt:

    Antje Bernstein Ich finde, das Buch ist viel tiefgründiger und die Botschaft ist für mich eine andere, aber bekanntlich geben Bücher dem Leser, was schon in ihm vorhanden ist….

    Bücherwurmloch Aha, das überrascht mich, was kam bei dir an?

    Antje Bernstein
    Ich habe ja beider Bücher „Das Familientreffen“ und „A. einer Affäre“ kurz nacheinander gelesen. Ich glaube, dass A. Enright ein Thema hat, Co-abhängigkeit , familiäre Verstrickungen und Schuld. Es handelt sich bei ihr immer um den gleichen Typ Frau, die sich auf eine Affäre einlässt und alle Schuld für die Folgen auf sich nimmt, die Co-abhängige eines alkoholkranken Bruders und Ehefrau eines scheiternden Ehemannes ist. Da gehört schon ein wackliges Selbstbild zu. Das durchschaut sie sehr gut und mir ist es auch wie Schuppen von den Augen gefallen. In Anatomie einer Affäre hat sie das geradezu überzogen dargestellt. Gina hat sich den Repressalien der Affäre ausgesetzt, hat sich für die Krankheit des Kindes verantwortlich gefühlt und letztlich für das Scheitern der Beziehung von Sean….was für ein selbstzerstörerisches Verhalten, Sean hingegen ihat die Schuldgefühle gefüttert, um mit diesem Dilemma klarzukommen, egoistischer Weise….

    Bücherwurmloch Das kann ich nachvollziehen! Vermutlich fällt es noch stärker auf, wenn man „Das Familientreffen“ fast zeitgleich liest – das liegt bei mir doch schon einige Jahre zurück. Und ich finde, du hast mit deiner Interpretation absolut recht! Allerdings kam es mir gar nicht so krass vor, dass Gina sich verantwortlich fühlt – schließlich hat sie auch immer so getan, dass das „eben so passiert ist“ und alle sich nicht so aufregen sollen. Seán hat sie aber mit Sicherheit sehr für seine Zwecke benutzt.

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