Catalin Dorian Florescu: Jacob beschließt zu lieben

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt
Die Geschichte beginnt mit Caspar, einem skrupellosen Soldaten im Dreißigjährigen Krieg, als Kind von Söldnern geraubt, dessen Geschäft der Tod ist: „Er stach in die Leiber hinein, als ob sie ein Stück warmes Brot wären. Er brach die Körper auf wie die guten Scinken, die er auf seinen Raubzügen durch die Gegend einem Bauern entwendete.“ Durch eine grausame Inbesitznahme kommt er zu einer Frau und einem Hof, er übernimmt ihren Namen Aubertin. Zu Obertin wird dieser umgewandelt, als Caspars Enkel Frederick ins rumänische Banat auswandert, eine beschwerliche und gefährliche Reise über die Donau auf sich nimmt, um in der Fremde das schwäbische Dorf Triebswetter zu gründen. 1924 sind von der geachteten Familie nur noch Elsa, die in Amerika auf unbekannte Weise zu Geld gekommen ist, und ihr Vater übrig. Als aus einem Gewitter Jakob ohne Nachname tritt wie der leibhaftige Teufel und um Elsas Hand anhält, willigt sie ein, ihn zu heiraten – und stimmt damit unwissentlich einem Leben unter seiner herrischen Hand zu. Erzählt werden all diese Jahrhunderte umspannenden Geschichten von Jacob mit c, Sohn von Elsa und Jakob, wegen seiner schmächtigen Gestalt vom Vater abgelehnt und verprügelt, der jedoch trotz seiner körperlichen Schwäche umzugehen weiß mit den Gefahren, die das Leben ihm entgegenwirft wie Steine, die ihn zum Stolpern bringen sollen. Entbehrlich ist Jacobs Leben, abenteuerlich, voll Gewalt und Schmerz – und mit viel zu wenig Liebe.

Groß ist ein Wort, das gern für Romane wie Catalin Dorian Florescus Werk verwendet wird, und groß ist dieses Buch tatsächlich, gewaltig sogar. Sprachgewaltig, ideengewaltig, geschichtsgewaltig. Der Autor wurde in Rumänien geboren, lebt aber in der Schweiz und schreibt auf Deutsch. All das Rumänische in seinem Blut, so scheint es, ist beim Schreiben hineingeflossen in dieses Buch, hat die rumänische Landschaft, die Bevölkerung mit ihrem Aberglauben, den Zigeunerhügel vor Triebswetter lebendig werden lassen. Dies ist ein männliches Buch, geschrieben von einem Mann, erzählt aus der Perspektive von Männern – was herrlich erfrischend ist angesichts der zahlreichen Familiensagas aus Frauenhand. Sechs Generationen umfasst die Handlung, und jede Epoche bringt einen weiteren Obertin hervor; die Frauen sind Randfiguren, aber ebenso Motivation und Ursache für alles, was geschieht. Dicht verwoben mit der Familie Obertin ist die Geschichte eines Orts, eines Landteils; vom rumänischen Banat berichtet Catalin Dorian Florescu, von einer unwirtlichen Gegend, in die Kaiserin Maria-Theresia ihre Getreuen schickte, damit sie sich das Land dort aufteilten und es fruchtbar machten. 300 Jahre wirbelt dieses Familienepos auf, beginnend mit dem Dreißigjährigen Krieg in Lothringen, und es erzählt von Krieg und Gewalt, vn Liebe und Verrat, von Flucht, Deportation und Heimatlosigkeit. Jeder kann ein Feind sein, mit jeder Generation ändert sich die Richtung, aus der der gefährliche Wind weht, und Protagonist Jacob bekommt das mehrmals zu spüren. Er wird fortgebracht, was erst einer Tragödie gleichkommt, sich dann aber als Segen erweist, kann er doch fernab vom herrschsüchtigen, dominanten Vater eine eigene Persönlichkeit entwickeln und Kraft. Er ist ein Getriebener, nicht verwurzelt mit dem Banat, obwohl er dort geboren ist, und dann, als alles einem versöhnlichen Ende zugehen könnte, kommt es doch wieder ganz anders.

Die Toten spazieren wie auskunftsfreudige Gespenster durch dieses wunderbare, ausschweifende, glänzend geschriebene Buch, das es dem Leser an nichts fehlen lässt. Ich freue mich, ich leide, ich kämpfe mit Jacob, stehe ihm bei Hunger und Kälte zur Seite, durchleuchte mit ihm Lügen und Machtspiele. Groß ist dieser Roman auch wegen der Gefühle, die aus ihm sprudeln, die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen wuselt mir entgegen, Hass ist ebenso dabei wie Teilnahmslosigkeit und Liebe. Armut und Entwurzelung begleiten die Menschen wie Verwandte, die man nicht loswerden kann, plastisch und auf poetische Weise schildert der Autor das Leben, das viele führten und das viele an den Hunger verloren. Gleichmäßig und schön geordnet sind die Worte, Florescu schreibt wie ein Juwelier, der Perlen für ein Collier auffädelt; er weiß, was er sagen will, und die Worte liegen in ihren Muscheln für ihn bereit, um eine schnurgerade, faszinierend anmutige Kette zu ergeben. Groß ist deshalb auch das Talent dieses preisgekrönten Autors, der mir zusammen mit Jacob spannende, beschauliche und nachdenkliche Stunden geschenkt hat sowie einen Einblick in ein mir weitgehend unbekanntes Land zu einer längst vergangenen Zeit. Und eigentlich brauchte es nur ein paar Seiten, drei, vielleicht fünf, ehe ich beschloss, dieses Buch zu lieben.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein gut gemachtes Cover, das Bild erzählt eine Geschichte, sehr schön.
… fürs Hirn: die historischen Fakten hinter der Story, das Bewusstsein für die Wankelmütigkeit und Grausamkeit der Menschen.
… fürs Herz: Jacob, die Hauptfigur, und die Entwicklung, die er durchmacht, die Kraft, die all das Leid ihm gibt, aber auch die Erkenntnis, dass der Schmerz ihn abstumpfen lässt.
… für Gedächtnis: die Szene, wie Caspar den Hof der Aubertins in seine Hände bringt, hat sich mir am meisten eingebrannt.

Jacob beschließt zu lieben von Catalin Dorian Florescu ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-61267-1, 404 Seiten, 19,95 Euro).

9 Gedanken zu “Catalin Dorian Florescu: Jacob beschließt zu lieben

  1. buechermaniac schreibt:

    Schön, dass dir dieses Buch von Florescu auch so gefallen hat. Für mich war es ein absolutes Highlight im Lesejahr 2011. Und noch schöner ist es, wenn man dem Autor bei einer Lesung begegnen darf und sich mit ihm unterhalten kann 🙂

    • Mariki schreibt:

      Oh, toll, du hast mit ihm geredet! Hier, wo ich wohne, finden leider nur sehr selten Lesungen statt (österreichische Pampa, hmpf). Aber dafür bei mir auf der Couch 😀 Und Florescu hat mir den Start ins neue Jahr ganz wunderbar versüßt.

  2. buzzaldrinsblog schreibt:

    Die Passagen über Caspar und wie er diesen Hof einnimmt, haben mich auch sehr nachhaltig beeindruckt.
    Ein wirklich schönes und sprachgewaltiges Buch, interessant, dass wir es genau diametral beurteilen, da mir ja eher die Entwicklung am Ende des Romans gefallen hat.
    Ich freue mich schon sehr auf weitere Bücher von diesem Autor, hast du noch etwas anderes von ihm gelesen?

    • Mariki schreibt:

      Das ist in der Tat erstaunlich! Und zeigt mal wieder, wie subjektiv das Lesen ist …
      Nein, was anderes hab ich nicht gelesen, und ich hab es auch nicht vor. Der eine Roman reicht mir, der war gut, ich will nichts riskieren 😉

  3. Nicolas schreibt:

    Hi, ich hab gerade meiner Schwieger Grossmutter das Buch „Die Flügel meines Vaters“ mitgebracht. Und sie hat sich draufgestuerzt. Hab den Titel gegoogelt und kam zu deinem Blog. Das Besondere an Agnes ist, dass Sie 101 Jahre alt ist und ohne Brille gerade das Buch verschlingt. Also warum schreib ich das hier? Weil Agnes den ganzen Tag alleine ist und in Ihrem Sessel sitzt. Sie mag nicht mehr Fernsehen – das kann sie wegen der schnellen Inhalte nicht mehr recht verstehen. Aber lesen – das geht perfekt! Eintauchen in andere Welten. Wunderbar. Aber, welche Buecher? Also, ich bin auf der Suche nach zauberhaften Empfehlungen. What to read above 100? Ah, ich mach mit Agnes auch ein Projekt, skypen ueber 100. Koennt ihr euch vorstellen, wie toll sich alte Menschen mit anderen verbinden koennten via skype? Na ja, danke jetzt schon mal fuer Empfehungen. Hat jemand mal Lust mit agnes zu Skypen? Wichtig! Ihr muesst was erzaehlen, was ihr so erlebt habt heute z.b. Herzlichst nick

    • Mariki schreibt:

      Hallo Nick! Eine schöne Idee. In welche Richtung sollen die Empfehlungen denn gehen? Auch so wie „Die Flügel meines Vaters“? Da weiß ich dann bestimmt was. Du kannst mir auch auf Facebook schreiben. Ich hoffe, dass ich mit 100 auch noch Bücher werde lesen können!

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