Jakob Hein: Kaltes Wasser

HeinEin Schelm, wer sich stets was Neues ausdenkt
Friedrich Bender ist ein Jugendlicher in der DDR. Das Leben dort ist einigermaßen öde, aber Friedrich ist überraschend kreativ: Wo keine Geschichten sind, da erfindet er welche. Zum Beispiel vor der gesammelten Klasse, der er regelmäßig berichten muss, was in der Zeitung steht. Keine sozialistische Zeitung ist derart spannend wie seine Erzählungen. Am interessantesten finden die Klassenkameraden freilich Friedrichs Freundin in Bristol, in die er wahnsinnig verliebt ist – und die es leider gar nicht gibt. Während die Wende vielen Menschen, wie auch Friedrichs Eltern, den Boden unter den Füßen wegzieht, sieht er ein Paradies an neuen Möglichkeiten. Durch Einfallsreichtum gelangt er an Geld, Freunde, Frauen und einen Uniabschluss. Die Frage ist nur: Lässt sich ein ganzes Leben auf Lug und Trug aufbauen – oder bricht das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen?

Kaltes Wasser von Jakob Hein wird auf dem Klappentext Schelmenroman genannt. Und das trifft es genau: Dies ist ein Schelmenroman par excellence. Und Protagonist Friedrich Bender ist ein ganz wunderbarer Schelm. Eigentlich ein 08/15-Typ, der sich von den Grenzen, die das Leben ihm auferlegt, schlicht nicht aufhalten lässt. Seine Fantasie überflügelt alles. Die Berliner Mauer hindert ihn daran, die DDR in der Realität zu verlassen. Aber in seinem Kopf reist er tatsächlich zu seiner Freundin nach England. Und das ist erst der Anfang – die Wende inspiriert ihn zu wahren Höhenflügen. Es gelingt dem deutschen Autor, der bereits 14 Bücher veröffentlicht hat, bestens, originelle Einfälle auf glaubwürdige Weise zu präsentieren. Das macht richtig viel Spaß. Ich weiß nie, was Jakob und Friedrich als Nächstes einfällt – und ich amüsiere mich prächtig mit diesem Buch. Es ist locker, luftig, schlau, witzig und ernst zugleich.

Jakob Hein ist ein Garant für niveauvolle Unterhaltung. Ich habe von ihm vor vielen Jahren Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht gelesen. Sein neuester Clou driftet trotz allen Schelmentums nie ins allzu Seichte ab und hat bei aller Heiterkeit stets einen leicht zynischen, vernunftvollen Hintergrund. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, aber insgesamt hat dieses Buch mir einen ganz herrlichen Ausflug ermöglicht in eine längst vergangene Zeit, als man noch – frei von virtueller Kontrolle – ein Schwindler sein konnte, verwegen und voller verrückter Einfälle. Dieser Roman ist ein kleines Stelldichein mit der Leichtigkeit der Fantasie.

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Kaltes Wasser von Jakob Hein ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-125-6, 240 Seiten, 18,99 Euro).

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt

Florescu.JPG„Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern nur, wer du vorgibst zu sein“
New York, 1899. Ein kleiner Junge schlägt sich durch: Er versucht Zeitungen zu verkaufen, putzt Schuhe, singt für die Huren und hofft jeden Abend, dass er genug Cent beisammen hat, um einen Schlafplatz im Heim und was zu essen zu ergattern. Mit den Gleichaltrigen gibt es keinen Zusammenhalt – wer etwas hat, das ein anderer will, wird verprügelt. Besonders im Ghetto sterben die Menschen im Stundentakt – und werden mit dem Totenschiff weggebracht. Der Junge, der sich später Berl und dann Paddy nennt, beschließt, niemals auf diesem Schiff zu landen – auch wenn er dafür Dinge tun muss, die er nie mehr vergessen wird. Elena dagegen, die in Rumänien in einem Donaudelta aufwächst, das man so gut wie gar nicht verlassen kann, würde alles geben, um nach Amerika zu gelangen. Doch eine schreckliche Krankheit macht alle Pläne zunichte. Erst viele Jahrzehnte später haben die Enkel dieser beiden Menschen die Chance, eine Art Erlösung zu finden.

Catalin Dorian Florescu in Rumänien geboren und hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mich 2011 Jacob beschließt zu lieben sehr berührt hat. In seinem neuesten Buch öffnet er die Türen zu zwei Welten: zum alten, frostigen New York, einer Stadt voll Armut, Hunger und Elend, sowie zu einem winzigen rumänischen Dorf an der mitleidslosen Donau. Ein Mädchen und ein Junge, die Tausende Kilometer voneinander entfernt sind, versuchen zu überleben. Sie werden einander nie kennenlernen – ihre Enkel Ray und Elena jedoch schon. Als die Zeiten anders sind, als es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, dafür aber Flugzeuge, scheint die Entfernung zwischen diesen beiden Kontinenten nicht mehr unüberwindbar. Genau dasselbe liegt für die inneren, menschlichen Unterschiede. Diese Annäherung kann vielleicht Versöhnung bringen für die Vorfahren.

Die Geschichte von Der Mann, der das Glück bringt ist schön. Sie ist wild, spannend, melancholisch und originell. Eine prächtige Vielfalt an Details springt mich an, und Catalin Dorian Florescu ermöglicht mir eine Zeitreise in ein über 100 Jahre altes New York, über das er sorgfältig recherchiert hat. Ebenso lebendig sind seine Schilderungen des Lebens in Rumänien, das entbehrungsreich ist und hart, voller Sehnsucht und Enttäuschung. Manch sprachlicher Schnitzer und so einige Wortwiederholungen seien ihm angesichts der prallen, fesselnden und absolut lesenswerten Story verziehen. Ein gutes Buch lässt dich vergessen, an welchem Ort und zu welcher Zeit du dich gerade befindest. Dies ist ein solches Buch.

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Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-69112-6, 327 Seiten, 19,95 Euro).

Gail Jones: Five Bells 

Jones„It takes patience to see what is true in this world“
Es ist ein sonniger Tag, an dem vier Menschen aus verschiedenen Gründen zum Circular Quay in Sydney fahren, wo das Opernhaus und die Harbour Bridge begehrte Fotomotive für Tausende Touristen sind. Ellie will sich nach vielen Jahren mit James treffen, der mit 14 ihre erste große Liebe war, sie denkt ständig an ihn und alles, was sie miteinander erlebt haben. James dagegen, der inzwischen als Lehrer arbeitet, ist nach einer Trägodie am Boden – und findet keinen Weg, neu anzufangen. Einen schweren Verlust verkraften muss auch Catherine aus Dublin, deren Bruder bei einem Unfall gestorben ist. Und Pei Xing lebt schon sehr lange mit dem Schmerz, den der Tod ihrer Eltern während der Kulturrevolution für sie bedeutet. Sie besucht regelmäßig jene Frau im Altersheim, die ihr einst viel Leid zugefügt hat. Vereint sind alle vier im Zufall, der sie an diesem Tag an diesen Ort bringt, so auch ein entführtes kleines Mädchen unterwegs ist …

Gail Jones scheibt überraschend träumerisch, mit einer seltsam schleppenden, melodischen Sprache, die nicht wirr, aber dennoch schwer zu durchdringen ist. Die australische Autorin verwebt in Five Bells das Schicksal von vier Figuren, von denen nur zwei sich kennen: Ellie und James, deren Liebesbeziehung schon ein halbes Leben zurückliegt. Der Roman umfasst nur einen einzigen Tag – und viele Erinnerungen. Jeder Charakter kommt gleichermaßen zu Wort und erhält die Möglichkeit, von sich und seinem Leben zu erzählen. Wieso ist jeder Einzelne von ihnen hier? Welche Abzweigungen haben sie auf ihrem Weg genommen, welche Entscheidungen haben sie getroffen, was ist ihnen zugestoßen? Davon berichten sie auf ebenso emotionale wie resignierte Weise: Das Leben ist, wie es ist. Und dann geht es zu Ende.

Es gibt Bücher, denen man anmerkt, dass der Autor seine Figuren sehr gern hat, dass er liebevoll mit ihnen umgeht, mit ihnen leidet, sie einspinnt in einen Kokon aus Worten. Dazu gehört Five Bells. Ein solcher Umgang mit den Charakteren färbt immer auf mich ab: Ich mag sie dann auch. Ich will nicht, dass ihnen etwas Böses geschieht. Schließlich müssen sie ja wohl liebenswert sein. Ich nehme Anteil an ihrem Schicksal, gewöhne mich an sie und vermisse sie, wenn ich das Buch ausgelesen habe. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ein Autor so ausgezeichnet schreiben kann wie Gail Jones. Ich werde Ellie, James, Catherine und Pei Xing deshalb in guter Erinnerung behalten, auch wenn ich mit dem Romanende nicht ganz einverstanden bin. Ein sehr schönes, melancholisches, intelligentes Buch – von meiner Seite eine große Leseempfehlung.

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Five Bells von Gail Jones ist auf Deutsch erschienen unter dem Titel Ein Samstag in Sydney bei Edition Nautilus (ISBN 978-3-89401-778-1, 256 Seiten, 22 Euro). Eine Rezension dazu findet ihr bei Sophie von Literaturen.

Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück

KuckartEin Reigen aus elf Episoden
Eine Nachbarschaft mit ganz gewöhnlichen Menschen: Zwei Frauen leben dort, Emilie und Maria, die gemeinsam alt werden, in einem Bett. Zusammen urlauben sie in einem tschechischen Kurhotel, wo die Dinge ein wenig außer Kontrolle geraten. So ergeht es auch dem achtzehnjährigen Leonhard, der Silvester allein zuhaus verbringt. Als er am Neujahrsmorgen aufwacht, liegt eine fremde Frau in seinem Haus. Sie ist wesentlich älter als er – und völlig verrückt. Sie jobbt in einer Bäckerei und hat eine erfundene Tochter namens Ronja. In der nächsten Nacht verliert Leonhard seine Jungfräulichkeit an sie – bevor sie wieder verschwindet. Währenddessen sind Leonhards Eltern und Schwestern im Urlaub, wo auf sehr unspektakuläre Weise eine Scheidung beschlossen wird. Was all diese Menschen verbindet? Eine Person: ein Klavierlehrer mit langen Haaren, Retter in der Not, Anlass für Eifersucht, Todbringer.

Was ist das Glück? Wo finden wir es und wie? Das sind Fragen, die sich wohl alle Menschen stellen – genau wie die Figuren in den elf Episoden dieses Buchs. Die bekannte Autorin Judith Kuckart schreibt in diesen kurzen Interlinking Storys über Leute, die einander kaum kennen, in der Nähe voneinander leben, aber nichts miteinander zu tun haben. Wie bei einem halben Adventskalender öffnet sie elf Türchen und lässt mich in die Häuser sehen, für einen Moment nur: Wer lebt dort mit wem? Lieben sie sich? Haben sie Geld? Und: Sind sie glücklich?

Judith Kuckart kann wahnsinnig gut schreiben, schlicht und schlau und schön. Nicht jede dieser Kurzgeschichten begeistert mich, die eine gefällt mir, die andere nicht. Insgesamt sind sie alle wunderbare Mini-Kaleidoskope, die fiktive Leben in ihre bunten Aspekte zerlegen. Der Interlinking-Aspekt macht dabei großen Spaß: Taucht in einer Story jemand auf, den ich bereits aus einer anderen Geschichte kenne, freue ich mich, ihm wieder zu begegnen – und noch mehr über ihn zu erfahren. Ein Buch mit einem poetischen Titel und kleinen, feinen Episoden über Menschlichkeit und Verlust, überraschende Ereignisse und das Glück.

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Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück von Judith Kuckart ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9807-7, 220 Seiten, 19,99 Euro).

Silvia Overath: Robbe schwimmt rückwärts

Overath.jpg„Das Mögen und die Lust und die Freude werden zurückkommen“
„Hoffnung ist so ein großes Wort. Es ist eins von den Wörtern, die ich gerne hassen würde. Ich finde es aber leider sehr schön. Auch weil es keine wirkliche Alternative gibt.“ Mit Alternativen ist es überhaupt so eine Sache für Mona: Die gehen ihr langsam aus. In allen großen deutschsprachigen Städten hat sie sich schon beworben und vorgestellt. Mona will Schauspielerin werden und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Platz an einer Schauspielschule. Doch sie wird nirgends angenommen, und wenn es auch in der letzten Stadt nicht klappt, wird Mona ihre Träume begraben und ein Studium beginnen. Ihre Mutter unterstützt sie zwar, wünscht sich aber einen anderen Beruf für Mona, etwas Sicheres, das bald Geld bringt. Der Vater ist Seemann und war Monas ganzes Leben lang jener Mann, auf den vorwiegend gewartet wurde, weil er stets abwesend war. Bei ihrem letzten Vorsprechen steht Mona enorm unter Druck. Sie beobachtet alle Konkurrenten genau, vergleicht sich, analysiert, zerdenkt, schwankt zwischen Hoffnung und Resignation. Sie spielt das Gretchen und kommt eine Runde weiter. Doch nur die wenigen, die in allen drei Runden überzeugen, dürfen auf die Schauspielschule …

Die junge deutsche Autorin Silvia Overath, geboren 1986, macht in ihrem ersten Roman Robbe schwimmt rückwärts einen Traum und seine Konfrontation mit der Realität zum Thema. Das schmale Buch mit knapp 150 Seiten widmet sich einfühlsam und klug einem 19-jährigen Mädchen, das eine klare Vorstellung von seiner Zukunft hat – aber wieder und wieder an den Hürden scheitert, die es auf dem Weg in diese Zukunft meistern müsste. Der zeitliche Rahmen des Romans erstreckt sich auf wenige Tage und umfasst Monas letzte Versuche, Schauspielerin zu werden. Sie spielt und singt, sie macht Stimmübungen und wandert durch Räume, sie küsst unsichtbare Frösche und müht sich mit jeder Aufgabe ab, gibt sich formbar, aber mit Persönlichkeit. Was wollen sie sehen? Wie kann Mona überzeugen? Ist sie der richtige Typ oder ist sie zu klein, zu blass, zu hässlich? Und immer ist da der Neid: auf die Konkurrenten, die einen Tick besser zu sein scheinen, denen alles leichter fällt, die spontaner sind und textsicherer. Ebenso groß wie der Neid ist die Angst vor dem Scheitern, vor dem Abgelehntwerden und dem Aufgebenmüssen.

Die Zeit, die Mona in Robbe schwimmt rückwärts erlebt, ist extrem emotional, belastend und aufwühlend. Minutiös und detailreich legt Silvia Overath den Aufnahmeprozess dar, diesen Seelenstriptease, den Kampf gegen die eigenen Schwächen und Unsicherheiten. Und das macht sie richtig gut. Sie hat sich derart vollständig in ihre Protagonistin eingefühlt, dass ich ihr jedes Wort glaube – und mit Mona mitleide. Wie kann ein junger Mensch so etwas ertragen? Es ist unmöglich, eine Ablehnung – nachdem man drei Tage lang vor lauter Fremden sein Innerstes nach außen gekehrt hat – nicht persönlich zu nehmen. Jede Kritik, jedes Ignoriertwerden schmerzt, und da es für Mona die allerletzte Chance ist, schmerzt es noch mehr. Dieser Debütroman birgt Momentaufnahmen im Wechselspiel zwischen Hoffen und Scheitern, und zwar auf sehr kluge, gefühlvolle Weise. Ich habe ihn sehr gern gelesen.

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Robbe schwimmt rückwärts von Silvia Overath ist erschienen im Rotpunktverlag (ISBN 9783858696601, 160 Seiten, 18 Euro).

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Carla Guelfenbein: Nackt schwimmen

Guelfenbein„Um nicht zu erlöschen, muss die Liebe unentwegt mit Hindernissen konfrontiert sein, die sie unmöglich machen“
Chile im Jahr 1972: Der Putsch des Militärs steht kurz bevor. In dieser aufgeheizten Zeit werden aus den beiden ungleichen Nachbarinnen Sophie und Morgana Freundinnen. Sophie geht noch zur Schule und ist sehr eigen, schon jetzt zeigt sich das Talent, das sie später zu einer bekannten Künstlerin machen wird. Morgana ist Anfang zwanzig und beginnt eine Affäre mit Sophies Vater, der für den Präsidenten arbeitet. Er ist attraktiv, redegewandt und kommt bei Frauen gut an. Sophie soll von der Affäre, die sich direkt vor ihrer Nase abspielt, nichts wissen – doch als Morgana schwanger wird, fliegt alles auf. Und genau zur selben Zeit bricht in Chile das Chaos aus: Das Militär reißt die Macht an sich, Sophies Vater muss untertauchen – und Morgana ist in großer Gefahr …

Carla Guelfenbein, 1959 in Santiago de Chile geboren, ist eine ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie thematisiert in ihren Romanen die Geschichte ihrer Heimat – auch in ihrem hier vorliegenden vierten Buch – auf eine sehr direkte und aufwühlende Weise. Carla Guelfenbein nennt die Dinge beim Namen. Sie erzählt von der Angst, die damals herrschte, von Willkür, Mord und Folter. Menschen verschwinden, werden getötet und verscharrt. Zwei der drei Protagonisten geraten mitten hinein in diesen Wahnsinn, müssen sich verstecken, können sich wochenlang nicht sehen, dürfen niemandem ihren Aufenthaltsort verraten. Und doch ist all diese Mühe letztlich umsonst. Das ist fesselnd, spannend und tragisch, sehr gut geschrieben und dramaturgisch perfekt umgesetzt. Diese chilenische Schriftstellerin versteht ihr Handwerk.

Ich habe von Carla Guelfenbein bereits Der Rest ist Schweigen gelesen, ein wahnsinnig trauriges Buch, das mich unheimlich berührt hat. Derart intensiv ist Nackt schwimmen nicht, aber auf jeden Fall auch außerordentlich emotional. Der Verrat, der unverzeihlich schien, wird im Licht der späteren Ereignisse zu einem fiesen Trick des Schicksals, das sich wieder einmal als Einziges ins Fäustchen lacht. Dass in einer Dreiecksbeziehung niemand gewinnen kann, ist klar. Doch die politische Situation jener Zeit führt dazu, dass nur einer der drei überlebt. Die Entscheidungen, die Sophie, ihr Vater und Morgana treffen, haben Jahrzehnte später noch Auswirkungen – auf die nächsten Generationen. Ein ebenso wichtiges wie lesenswertes Buch!

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Nackt schwimmen von Carla Guelfenbein ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3100278265, 304 Seiten, als Taschenbuch erhältlich).

Irmgard Fuchs: Wir zerschneiden die Schwerkraft 

thumb_IMG_6302_1024Vom Spiel mit Leichtigkeit und Schwere
Dieses Buch schwebt. Grafisch zeigt sich das an den Weltallbildern, die das Cover sowie jeden Geschichtenbeginn zieren. Inhaltlich ist die Schwerkraft im Titel ein ums andere Mal Thema: Einer verschickt Botschaften mit einer Silvesterrakete, ein anderer reist in einem Koffer ins All. Gemeinsam haben die Figuren eine gewisse Verlorenheit. Sie sind allein, einsam, zerstreut – und definitiv verrückt. Manche von ihnen haben einen derartigen Knall, dass ich kaum ein Wort, das sie mir erzählen, verstehe. Das ist freilich ebenso amüsant wie anstrengend. Andere wiederum verstecken ihren Wahnsinn besser – und die finde ich ganz besonders interessant.

Prinzipiell macht mir Irmgard Fuchs die Sache mit dem Verstehen nicht so leicht. Die junge Salzburgerin hat unter anderem Sprachkunst studiert und zeigt in ihrem ersten Buch, was man da so lernt: offenbar den Mut, experimentell mit Sprache und ihrer Form umzugehen. Nicht zu wild, nein, keine Sorge, da habe ich schon Krasseres gesehen (und denke beispielsweise an Menschen aus Papier von Salvador Plascencia), aber durchaus auf originelle und beachtenswerte Weise. Inhaltlich gefällt mir nicht jede Geschichte, und ich wollte sie auch nicht alle zu Ende lesen. Einige jedoch haben mich sehr fasziniert und zum Schmunzeln gebracht. Und aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit ist dieses Buch einmal mehr ein solches, das ich noch ein bisschen für sich selbst sprechen lassen möchte, damit ihr ein Gefühl dafür bekommt, wie es sich anhört:

Meine Augen sind geschlossen wie vor einem Kuss.

Um mich nicht dem Gefühl der Überflüssigkeit zu überlassen, habe ich mich daran gewöhnt, innerlich taub zu sein und mich wie ein glänzendes Polyestermöbel zu fühlen, das zwar etwas abgelebt, aber immer noch einsatzfähig ist.

Auf der Straße wird mir die unnütze Zitrusfrucht jedoch sofort lästig und ich lege sie im Vorübergehen auf den Sattel eines abgesperrten Fahrrads. Nach ein paar Metern muss ich über die Vorstellung der davonradelnden Zitrone lächeln und ich schaue mich noch einmal nach ihr um, damit ich ihr Bild nicht vergesse.

Der Schwindel wird stärker, in ihm entfaltet sich das längst vergessene Gefühl, wie gut es getan hat, als junger Mann im Sommer kurze Hosen zu tragen.

der punkt, an dem das blut den stoff traf, war fast die gleiche stelle, wie die, an der mein stechender schmerz sitzt – nur spiegelverkehrt

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Wir zerschneiden die Schwerkraft von Irmgard Fuchs ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-00990-4, 208 Seiten, 19,90 Euro).

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Péter Gárdos: Fieber am Morgen

GardosUnd dann nicht aufgeben, niemals, nie
Als der junge Ungar Miklós 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wird, besteht er im wahrsten Sinn des Wortes nur noch aus Haut und Knochen. Er wird nach Schweden gebracht, zusammen mit vielen anderen, und dort medizinisch betreut. Dabei stellt sich heraus: Miklós leidet an einer Lungenkrankheit und hat nur noch sechs Monate zu leben. Doch davon lässt er sich nicht beirren. Er schreibt 117 Briefe an junge ungarische Frauen, die über ganz Schweden verteilt sind, denn er möchte antworten. Allzu viele Antworten bekommt er nicht, doch sehr schnell ist für ihn klar: Lili soll es sein, sie ist die Richtige. Es entspinnt sich ein intensiver, emotionaler Briefwechsel, und Miklós setzt alles daran, seine Lili persönlich zu treffen. Nichts soll ihn davon abhalten, nicht einmal sein nahender Tod …

In Fieber am Morgen erzählt Péter Gárdos, preisgekrönter Film- und Theaterregisseur aus Budapest, die wahre Geschichte seiner Eltern. Miklós und Lili haben also tatsächlich gelebt, und all diese Briefe wurden wirklich geschrieben. Das macht dieses Buch umso schöner und gibt ihm mehr Tiefgang. Dem Autor ist es ausgezeichnet gelungen, aus den realen Anknüpfungspunkten Fiktion zu weben und all das, was er nicht weiß, mit seiner Fantasie auszufüllen. Dabei bezeichnet er Miklós das gesamte Buch über konsequent als „meinen Vater“, seine Mutter aber als Lili. Wer der eigentliche Erzähler ist, ist somit klar, und freilich auch, dass die Geschichte ein gutes Ende haben wird, denn sonst wäre Péter gar nicht erst geboren worden. Das Hauptaugenmerk liegt auf Miklós, aber auch Lili hat eine eigene Perspektive in diesem gefühlvollen Roman. Die beiden kämpfen gegen allerlei Hindernisse, die vor allem aus Bürokratie und neidischen Menschen bestehen – und in der tödlichen Krankheit, an der Miklós leidet. Sie kämpfen darum, nach allem, was sie erlebt und gesehen haben, weiterzuleben, gemeinsam.

Es ist sagenhaft, wie stur Miklós an seinem Plan festhält, sich nicht unterkriegen zu lassen, von nichts und niemandem. Liegt das daran, dass er die schlimmsten Gräueltaten überlebt und nichts mehr zu verlieren hat? Es fasziniert mich, wie er aus einem simplen Briefwechsel eine Liebe kreiert und formt – allein mit der Kraft seines Glaubens daran. Er WILL, dass Lili seine große Liebe wird, und allein deshalb wird sie es auch. Die Worte, die Péter Gárdos für seine Erzählung verwendet, sind schlicht und ehrlich, sie verstellen sich nicht, putzen sich nicht heraus, und sie sagen immer, was sie meinen. Raffiniert ist das nicht, aber wunderbar zu lesen – und es passt perfekt zum Inhalt dieser einzigartigen, sehr klaren und sehr menschlichen Story. Ich habe mir sagen lassen, dass Fieber am Morgen vom Literarischen Quartett als Holocaust-Kitsch verunglimpft wurde und frage mich, ob es so etwas überhaupt geben kann – wenn das Buch noch dazu auf wahren Tatsachen beruht. Ein solches Buch muss nicht literarisch herausragend sein, weil seine Kraft auf der Wahrheit beruht, auf der Geschichte unserer Länder, auf liebevollen Briefen, auf unbeugsamem Überlebenswillen. Und Péter Gárdos driftet nie ins Kitschige ab, denn er betont, dass seine Eltern im späteren Leben nie romantisch waren, dass sie aus ihrem ungewöhnlichen Kennenlernen nie eine große Sache gemacht haben. Sie haben einfach gelebt, und das war genug.

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Fieber am Morgen von Péter Gárdos ist erschienen im Hoffmann und Campe Verlag (ISBN 978-3-455-40557-6, 256 Seiten, 22 Euro). Rezensionen zum Buch findet ihr zum Beispiel auf Zeit.de, Papiergeflüster sowie Leseschatz.

Peter Badge & Sandra Zarrinbal: Geniale Begegnungen

Badge„Man blättert im Leben immer wieder Seiten um. Aber alle bleiben im Buch, unabänderlich“
Im Sommer 2000 bekam Peter Badge den Auftrag, Nobelpreisträger in aller Welt zu fotografieren. 15 Jahre und 400 Begegnungen später ist aus diesen interessanten Reisen – mithilfe von Autorin Sandra Zarrinbal – ein Buch entstanden, das einige der wichtigsten Menschen unserer Zeit porträtiert. Der Biochemiker Eddy Fischer spielt für Peter Badge Wagner am Klavier, Gabriel García Márquez öffnet ihm in Lederpantoffeln die Tür und erzählt von seinem Großvater, einem Oberst der kolumbianischen Armee, der ihm sein erstes Buch schenkte, Nelson Mandela verträgt als Folge seiner Lebensgeschichte kein helles Licht und kann nicht mit Blitz fotografiert werden. Was hat all diese Menschen bewegt und angetrieben, was hat sie zu den Höchstleistungen bewogen, für die sie mit dem wohl berühmtesten Preis der Welt ausgezeichnet wurden? Was für Eigenheiten haben sie, wie leben und arbeiten sie? Peter Badge beantwortet diese Fragen. Er war in aller Welt unterwegs, hat Frauen und (natürlich vor allem) Männer getroffen, Mediziner und Physiker, Schriftsteller und Staatspräsidenten, Biologen und Mathematiker, die ihn empfangen haben, um sich ablichten zu lassen – und die dabei immer etwas sehr Persönliches preisgegeben haben.

Was ich an Geniale Begegnungen sehr mag, ist Peter Badges angenehme Art. Ich habe das Gefühl, das ist ein Typ wie du und ich. Er hat von den Formeln, Erfindungen und Errungenschaften, für die die Preise vergeben wurden, auch nicht unbedingt mehr Ahnung als ein Normalsterblicher. Er nähert sich den berühmten Persönlichkeiten durchaus respektvoll, aber auch unbedarft – und das macht ihn sehr sympathisch. Er schildert auf absolut natürliche und entspannte Weise, wie die Treffen sich gestalteten, wie die Ehefrau sich verhielt, wie der Garten aussah. Das vermittelt mir den Eindruck, diese Preisträger kennenlernen zu können … wenigstens für einen Moment. Das macht dieses Buch so besonders: Es entzaubert jene, an deren Leistungen wir nie heranreichen können, macht sie menschlich und nahbar. Gut gelungen ist auch die Dramaturgie des Buchs, das tatsächlich so etwas wie einen roten Faden hat, das geschichtliche Hintergründe und politische Begebenheiten miteinbezieht. Einziger Grund zur Klage: Mir fehlen die Fotos. Da das Ganze eigentlich ein Fotoprojekt ist, wäre es schön gewesen, die Porträts in Farbe oder zumindest größer zu sehen. Ansonsten: ein interessantes Buch, das vielleicht ein bisschen klüger macht – und viel Stoff für intelligenten Smalltalk bietet. Weil man dann beispielsweise sagen kann: „Wussten Sie, dass Obama Honigbier braut?“

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Geniale Begegnungen von Peter Badge und Sandra Zarrinbal ist erschienen bei daab (ISBN 978-3-942597-27-2, 576 Seiten, 29,95 Euro). Die Bücherliebhaberin hat das Buch auf We read Indie besprochen, auch Maike von Herzpotenzial zeigt sich angetan.

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Katharina Hartwell: Der Dieb in der Nacht

HartwellEin rätselhaftes Buch
Der Tag, an dem Felix verschwand, war sehr heiß. „In jenem Spätsommer waren alle Geräusche gedämpft, und alle Farben waren es auch.“ Felix, 19 Jahre alt, Sohn von Agnes, Bruder von Louise, bester Freund von Paul, ging an die Tanke, um Cola zu kaufen, und kam nicht mehr zurück. Nie mehr. Seither fragen sich die, die zurückgeblieben sind, was mit ihm geschehen ist, und finden keine Antwort. Felix war der Dreh- und Angelpunkt des Beziehungsgeflechts, ohne ihn können sie nicht einmal mehr sie selbst sein: „Paul, der Geist, der Schatten, erkannte, dass er sich als Mensch vor allem durch sein Verhältnis zu einem anderen Menschen definiert hatte. Wenn er nicht Felix’ bester Freund war, vermutete er, war er niemand.“ Zehn Jahre später begegnet Paul in Prag einem Fremden, den er einen Moment lang für Felix hält. Er sieht ihm nicht ähnlich, hat die falsche Stimme, die falsche Haar- und Augenfarbe, aber das gleiche Muttermal – und er wurde vor zehn Jahren aus der Moldau gefischt. Der Mann, der sich Ira Blixen nennt und als Künstler arbeitet, leidet an Amnesie und weiß nicht, wer er ist. Könnte er Felix sein? Paul ist elektrisiert und ratlos zugleich. Blixen folgt ihm nach Berlin, nistet sich bei ihm ein, und bald stößt auch Louise dazu. Louise, die zunächst nicht glaubt, dass Blixen ihr Bruder ist, die sich dann aber auch unbedingt an die Hoffnung klammern will, er sei es doch. Und Blixen? Der spielt ein undurchschaubares Spiel mit beiden – und auch mit Agnes …

In Katharina Hartwells erstes Buch Das fremde Meer hab ich mich Hals über Kopf verliebt, wir hatten eine intensive Romanze, und ich bin stolz, auf dem Klappentext der Taschenbuchausgabe vertreten zu sein. Der Nachfolger hat mir nicht ganz so den Kopf verdreht. Es ist allerdings müßig, die beiden Romane vergleichen zu wollen, weil sie so unterschiedlich sind wie ein Quadrat und eine Wurst, womit die junge Autorin großen Facettenreichtum beweist. Wahnsinnig spannend fand ich die Idee hinter dem Buch, die Ausgangslage: der Junge, der verschwindet, der Mann, der vielleicht er sein könnte. Von Anfang an legt Katharina Hartwell einen nebulösen Schleier über Der Dieb in der Nacht, webt eine eigenartig bedrohliche Atmosphäre, zeigt sich geheimnisvoll und verschwiegen. Da dachte ich mir schon, dass ich am Ende nicht erfahren werde, was Felix zugestoßen ist. Gehofft habe ich freilich trotzdem darauf. Blixen ist eine düstere, unangenehme Gestalt, er hat etwas Vampirartiges, Leeres, Unheimliches. Es ist, als müsse er den anderen das Leben aussaugen, weil er selbst keines hat. Eine klassische „Die Geister, die ich rief“-Situation: Paul wird den manipulativen Blixen nicht mehr los, fängt an, ihn zu fürchten, ihm zu misstrauen: „Ohne sagen zu können, ob Blixens Züge zu angespannt oder im Gegenteil zu entspannt sind, ist er sicher: Dies ist nicht das Gesicht von jemandem, der schläft. Es ist das Gesicht von jemandem, der sich schlafend stellt.“

Nun ist es so, dass lethargische Menschen mich wahnsinnig machen. In der Realität ebenso wie in Büchern. Und in Der Dieb in der Nacht gibt es gleich zwei davon: Paul und Louise. Schon vor der Sache mit Blixen kriegen die beiden nichts auf die Reihe, jobben am Existenzlimit dahin, haben halbgare Freundschaften, gehen keine Beziehungen ein. Mag sein, dass Felix’ Verschwinden sie immer noch lähmt. Mag auch sein, dass das eine gemütliche Ausrede ist. So oder so ertrage ich derart viel Apathie und Gleichgültigkeit dem eigenen Leben gegenüber nur schwer. „Paul träumt. In seinem Traum passiert wenig: niemand spricht, niemand tut etwas, auch Paul bewegt sich nicht.“ Das bringt es auf den Punkt. Und während dem Buch langsam die Seiten ausgehen, trinken Paul und Louise Weinflasche für Weinflasche mit Blixen, fragen ihn nicht aus, verlangen keinen DNA-Test von ihm, sprechen kaum über Felix, stellen ihn wegen seiner Spielchen nicht zur Rede. Ich flippe schier aus vor Ungeduld – und muss mich letztlich natürlich damit abfinden, dass das Rätsel nicht gelöst werden kann, dass die Ketten der Vergangenheit nicht gebrochen werden. Der Dieb in der Nacht ist ein sehr trauriges, anrührendes, schicksalhaftes Buch mit einem eigentümlichen, starken Sog. Es ist unerklärlich, verwirrend, beklemmend – und genau dadurch schlussendlich wieder besonders.

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Der Dieb in der Nacht von Katharina Hartwell ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1279-1, 320 Seiten, 20 Euro). Schöne Rezensionen zum Buch findet ihr beispielsweise bei Sophie und Flattersatz.