Carl Frode Tiller: Kennen Sie diesen Mann? 

TillerGute Idee in schlechter Umsetzung
David hat sein Gedächtnis verloren und weiß nicht mehr, wer er ist. Drei Menschen, die ihn gekannt haben, schreiben ihm Briefe. Diese drei sind: Davids Jugendfreund Jon, sein Stiefvater Arvid und seine erste Freundin Silje. Jon will als Musiker Fuß fassen und schafft es nicht, was jedoch weniger an mangelndem Talent als viel mehr an seiner destruktiven Art liegt. Die Beziehung zu seiner Familie ist eine Katastrophe, er kann keine fünf Minuten mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem Raum sein, ohne dass der Hass in ihm hochkocht. Arvid ist dagegen inzwischen alt und hat resigniert. Der ehemalige Pfarrer erinnert sich an die Zeit mit David und dessen Mutter, die er beide sehr geliebt hat. Er berichtet auch von Davids Pubertät und all den Verletzungen, die dieser seinen Eltern zugefügt hat. Silje befindet sich in einem merkwürdigen Zustand: Sie liebt ihren Mann und ihre Kinder, fühlt sich aber gefangen in ihrem Leben. Sie wollte als Jugendliche etwas Besonderes sein und kommt jetzt mit ihrer 08/15-Existenz nicht klar.

Carl Frode Tiller ist ein bekannter norwegischer Autor, mit vielen Preisen bedacht und dutzendfach übersetzt. Ich fand, dass das Konzept seines Romans Kennen Sie diesen Mann? sehr spannend klang: dass jemand, der sich selbst verloren hat, Briefe von Menschen erhält, sie sich an ihn erinnern. Allein: Diese Briefe sind absolut uninteressant. Alle drei Schreiber drehen sich viel zu sehr um sich selbst, zerlegen ihr langweiliges Leben in alle noch langweiligeren Einzelheiten, geben zwar manches von David preis – aber lang nicht genug, um ihn als Person greifbar zu machen. Stattdessen erzählen sie in ihren Briefen von einer recht gewöhnlichen Vergangenheit, und in anderen Episoden erhalte ich Einblick in ihre Gegenwart, nicht in Briefen, nicht in der Ich-Form. Diese Gegenwart ist unglücklicherweise auch nicht interessanter, und der Kontrast zwischen damals und heute ist viel zu schwach, um irgendein Gefühl in mir hervorzurufen. Denn auch die Protagonisten haben kaum Gefühle außer Resignation, Hass und Enttäuschung. Zu allem Übel gleichen sich die drei Figuren bzw. die drei Teile des Buchs sehr stark: Allerorts wird nur gestritten, niemand versteht sich, keiner ist glücklich. Das zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, und Abwechslung davon gibt es nicht. Das ist deprimierend. Und anstrengend. Die Ausgangsfrage des Romans wird letztlich nicht beantwortet: Wer David ist, bleibt unklar – und was ihm geschehen ist, ebenfalls. Ein leider ganz und gar überflüssiger Roman.

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Kennen Sie diesen Mann? von Karl Frode Tiller ist erschienen im btb Verlag (ISBN 978-3-442-75616-2, 352 Seiten, 19,99 Euro).

Christopher B. Reha: What happened to Sophie Wilder

RehaDie Geschichte einer einseitigen Liebe
Am College war Charlie Blakeman schrecklich verliebt in Sophie Wilder, das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren aus seinem Schreibkurs, das ihm die richtigen Bücher zu lesen gab und ihn formte. Sie führten eine anstrengende On-off-Beziehung, schlossen sich tage- und nächtelang in Sophies Zimmer ein – unterbrochen von Phasen, in denen Sophie mit anderen Männern schlief. Charlie spielte den Coolen, kam aber nicht darüber hinweg – vor allem, weil Sophie plötzlich mit einem der anderen zusammen war und ihn sogar heiratete. Das war ihr ein Anliegen, weil sie aufgrund eines erleuchtenden Erlebnisses Christin geworden war. Jahre später lebt Charlie mit seinem Cousin, der Sophies Reizen einst ebenfalls erlag, in einem Haus in New York, in dem jeden Abend eine Party gefeiert wird. Und an einem dieser Abende befindet sich Sophie unter den Gästen. Nun erfährt Charlie, warum Sophie nach dem großen Erfolg ihres ersten Buchs nie wieder schreiben will, weshalb das mit der Hochzeit doch keine so gute Idee war und was mit dem Vater ihres Ehemanns geschehen ist.

What happened to Sophie Wilder ist die Geschichte eines Mannes, der verrückt ist nach einer Frau – und nicht weiterkommt im Leben, nachdem sie ihn zurückgelassen hat. Und es ist leider eine sehr schlechte Geschichte. Ich hab mir den Roman aufgrund einer Empfehlung in der New York Times gekauft – und hätte das mal besser bleiben lassen. Denn es ist durchaus wahr, dass Christopher B. Reha gut schreiben kann. Nur ist sein Buch inhaltlich Bullshit. Es hat Figuren, deren Handlungen absolut nicht nachvollziehbar sind. Es ist dröge, merkwürdig und inkonsequent. Und es hat ein Ende, das viel zu viele Fragen offen lässt. Das ist schade, weil: Die Ansätze sind gut. Eine Frau, die der Protagonist am College geliebt hat – und die unvermittelt auftaucht. Das Geheimnis des Vaters, den Sophie nie kennenlernen durfte und der plötzlich im Sterben liegt. Das hätte eine interessante Story ergeben können. Tut es aber nicht. Sophie ist unsympathisch und eine Heuchlerin, einerseits hochgläubig, andererseits überraschend berechnend. Sie rennt jeden Morgen in die Kirche, verhält sich aber wie ein Arschloch und tut am Ende etwas, das alles, wirklich alles infrage stellt und zudem überhaupt keinen Sinn ergibt. Und Charlie? Der ist ein wahnsinnig blasser Langweiler, dessen einzig guter Charakterzug darin besteht, dass er gern liest. Das Beste an diesem Buch waren allein seine schönen, dicken, aufgerauten Seiten. Nun gehe ich davon aus, dass niemand von euch What happened to Sophie Wilder kennt. Und glaubt mir: Das müsst ihr auch nicht.

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What happened to Sophie Wilder von Christopher B. Reha ist erschienen bei Tin House (ISBN 978-1-935639-31-2, 256 Seiten, 12,75 Dollar).

William E. Bowman: The ascent of Rum Doodle

BowmanSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?

Die mitwirkenden Personen:
Ein Teamleiter, der sich vor allem durch Naivität auszeichnet
Ein Bergführer, der sich ununterbrochen verirrt
Ein Arzt, der ständig krank ist
Ein Dolmetscher, der nur diskutiert und blutige Aufstände auslöst
3000 Yogistani Träger

Der Ort:
Rum Doodle, mit 40.000 ½ Fuß der höchste Berg der Welt

Die Mission:
Auf den Gipfel zu kommen

Hat’s gemundet?
Absolutely not! Bowmans Roman ist eine „Bergsteigersatire aus den 50er-Jahren“, die 2013 neu entdeckt und als „das lustigste Buch, das Sie je gelesen haben“ angepriesen wurde. Well. It’s not. Wir wissen ja alle, wie heikel das ist mit dem Humor – und Klamauk entspricht nicht meinem Stil. Ich finde alles, was in diesem Roman schiefgeht, einfach nur überzogen und dumm. Statt 3000 Trägern (die gebraucht werden, weil jeder für einen anderen etwas zu essen tragen muss) kommen wegen eines Kommunikationsfehlers des Dolmetschers 30.000, als ein Teammitglied in einer Gletscherspalte festsitzt, wird ein weiteres hinuntergeschickt – dann sitzen beide fest und verlangen nach Champagner, das geht so lange, bis mehrere sturzbetrunkene Männer unten singen. Ja. Witzig? Nein. Erinnert ihr euch an Filme wie „Die nackte Kanone“? Die fand ich immer schon sehr, sehr schlimm. Weil Dinge geschehen, die unrealistisch und clownesk sind. Damit ich lache, muss die Ironie mich beißen, und der Sarkasmus muss mir in den Hintern treten. Beides ist hier nicht der Fall. Viele Rezensenten schreiben, sie hätten sich totgelacht. Ich hab mich totgelangweilt.

Wer soll’s lesen?
Wer klamaukige Parodien mag.

T. C. Boyle: Der Samurai von Savannah

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Worum geht’s?
Hiro Tanaka aus Japan wagt den Sprung nach Amerika – und zwar von einem Schiff aus ins eisige Meer. Er schwimmt um sein Leben und kann sich schließlich auf Tupelo Island an Land retten. Dumm nur, dass er von dieser Insel nicht mehr runterkommt. Außerdem wirder von der aufstrebenden Schriftstellerin Ruth Dershowitz, die in der dort ansässigen Künstlerkolonie wohnt, und ihrem Freund Saxby gesehen, woraufhin eine wahre Hetzjagd auf den fast verhungerten Japaner beginnt. Ruth, die an einer Schreibblockade leidet und krank ist vor Eifersucht auf ihre weitaus bessere Autorenkollegin, rettet Hiro, indem sie ihm Unterschlupf gewährt und ihn mit Essen versorgt. Damit handelt sie sich selbst jedoch eine Menge Probleme ein.

Hat’s gemundet?
Nein! Überhaupt nicht. Ich habe das Buch von einer Freundin bekommen, deren Lieblingsautor T. C. Boyle ist. Und ich verstehe nicht, warum. Ich war gespannt auf mein erstes Buch von diesem ja doch sehr gerühmten Autor, wollte es aber schon nach einer Weile entrüstet an die Wand knallen: als die Rede war von einer „Epiphanie der Magensäfte“ statt von ordinärem Hunger. T. C. Boyle hat einen für mich unerträglich überkandidelten, dramatischen, theatralischen Stil, und all das Gerede von „Negern“ und den eitlen Künstlern ging mir extrem auf den Sack. Jede Figur im Buch nimmt sich über die Maßen wichtig, alle beweihräuchern sich selbst, die Dialoge sind inhaltsleer und überzogen. Was das Buch mir sagen will, bleibt mir auch ein Rätsel. Dass die Menschen in den Südstaaten primitiv sind? Dass sie Jagd auf Andersartige machen? Dass man es geschafft hat, wenn man in Künstlerkreisen verkehrt und zur Cocktailstunde geladen wird? Ich sage nur: laaangweilig.

Wer soll’s lesen?
Wenn’s nach mir ginge, niemand.

Annika Scheffel: Ben

ScheffelSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho, dem die Eltern nicht nur einen, sondern gleich mehrere ungewöhnliche Namen gegeben haben, in der Hoffnung, der Sohn möge dann auch ein ungewöhnliches Leben führen. Nun – das hat nicht funktioniert. Sein Nachname lautet Schmitt, und ein Schmitt ist er auch. Ben wurstelt sich als Student durchs Leben, und das einzig Ungewöhnliche ist seine Verliebtheit in Lea, die er nicht treffen darf, weil sie – wenn sie Ben vier Mal gesehen hat – sonst sterben wird. Das ist Ben seit seiner Geburt klar. Ben muss also flüchten. Und ein bisschen verrückt wird er dabei auch.

Wie hat’s gemundet?

Gar nicht. Dies ist ein Buch, das allen gefällt und von allen gelobt wird. Ich kann allerdings Romane, in denen der Protagonist den Verstand verliert, überhaupt nicht ausstehen – da habe ich beim Lesen das Gefühl, dass ich vor lauter Wirrheit selber ganz narrisch werde. Annika Scheffels Alltagsheld verliert mit jedem Kapitel einen seiner Namen – und ein bisschen etwas von seinem klaren Blick, so scheint es, oder einen Teil seiner Persönlichkeit, sodass diese sich permanent verändert. Das ist … anstrengend. Zwischendurch ist Bens wundersame Reise durchsetzt mit banalen Tätigkeitsbeschreibungen, und so schwanke ich zwischen Irrsinn und Langeweile. Experimentell – vielleicht, originell – durchaus, lesbar – mit Mühe. Dieses Buch ist ganz sicher anders als die anderen, für mich aber nicht besser.

Wer soll’s lesen?
Menschen mit viel Geduld.

Michael Ebmeyer: Landungen

EbmeyerSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Um Friederike Soltau, die im Jahr 1869 mit ihrem Bruder Albert auf die erworbene Estancia in Argentinien übersetzt und so der drohenden Einweisung in die Irrenanstalt entgeht. Die Eltern wissen nicht umzugehen mit Friederikes Launen und dem Schatten, von dem sie sich verfolgt fühlt. Sie jedoch findet in Argentinien einen Platz, an den sie zu gehören scheint. 100 Jahre später verkauft Udo Soltau, gerade frisch in zweiter Ehe mit der weitaus jüngeren Sigrid verheiratet, die Familien-Estancia. Und steht ansonsten vor den üblichen Problemen eines ereignislosen Lebens: getrennte Betten, Schimmel im Bad, die Sehnsucht nach der längst verflogenen Verliebtheit. Auf Friederikes Spuren wandelt später Udos Sohn Marco – und zwar in doppelter Hinsicht. Er erforscht ihre Geschichte, und er ist mindestens ebenso verrückt wie sie.

Hat’s gemundet?

Nein. Mein anfängliches Interesse schwindet schnell. Während Friederike mich zu Beginn auf eine spannende Reise mitzunehmen scheint, schläfert der langweilige Udo mich fast ein. Und Marco, der nicht ganz bei Verstand ist, treibt mich mit seiner Sprunghaftigkeit in den Wahnsinn. Zudem weiß ich nicht, was der Roman mir sagen will, und finde auch nichts Spektakuläres in seinem Inhalt. Es gefällt mir, wie Michael Ebmeyer seinen Stil variiert und an die jeweilige Epoche bzw. an den Erzähler anzupassen weiß – aber das ist für mich auch schon das einzig Positive an diesem Buch.

Wer soll’s lesen?
Vielleicht jemand, der mehr Zugang zu Argentinien hat als ich und mehr Geduld mit Protagonisten, die verrückt werden. Ich kann das nämlich nicht leiden, es verwirrt mich zu sehr.

Anne Tyler: Tag der Ankunft

TylerSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Zwei Mädchen aus Korea, zwei amerikanische Familien, ein Tag am Flughafen: Als die Amerikaner Brad und Bitsy sowie die iranischen Einwanderer Sami und Ziba ihre koreanischen Adoptivbabys in Empfang nehmen, kommen sie miteinander in Kontakt – und aus der Zufallsbegegnung entsteht eine Art Freundschaft, die viele Jahre andauert, allerdings eher forciert ist und von den Mädchen sogar fast abgelehnt wird. Sehr auffällig im direkten Vergleich sind dabei die Unterschiede der beiden Elternpaare im jeweiligen Umgang mit den Adoptivkindern, die natürlich – aber nicht nur – auf ihre eigene verschiedenartige Herkunft zurückzuführen sind.

Hat’s gemundet?
Nein. Da lese ich endlich mal ein Buch von Anne Tyler, die so hochgepriesen wird, und dann gefällt es mir nicht. Denn während die Romanidee durchaus interessanten Stoff verspricht, ist das Buch alles in allem eine öde Aneinanderreihung vieler verschiedener Speisen, Kleidungsstücke und Erziehungsmaßnahmen. Ständig erzählt die Autorin mir, wer welches Gewand anhat, was die Iraner kochen und was die Amerikaner servieren, dass das eine Mädchen seinen koreanischen Namen behält und das andere nicht, dass das eine in die Vorschule geht und das andere nicht – aber was die Figuren empfinden, wie sie mit der Adoption umgehen, was sie denken und nicht auszusprechen wagen, das sagt sie mir nicht. Dabei hätte mich ja nur das interessiert. Denn dass Bitsy gern handgewebte hellblaue Kittel trägt – das ist mir herzlich wurscht. Genau wie letzten Endes leider auch dieses ganze Buch.

Wer soll’s lesen?

Keiner.

Kerstin Hensel: Federspiel

Drei Merkwürdigkeiten
Sie sind Geschwister, und sie haben den Absprung nicht geschafft: Rita und Richard verbringen ihr ganzes Leben zuhause und lassen sich von der grantigen Mutter traktieren. Nach dem Krieg, der ihnen den Vater genommen hat, breitet sich endlose Langeweile vor ihnen aus, die in der Sinnlosigkeit eines Lebens auf einem einsamen Bauernhof mit zwei alten Frauen ihren Höhepunkt findet. Wanda dagegen hat ihren Vater noch: Er ist Deutschprofessor und mehr mit der deutschen Sprache verheiratet als mit seiner Gattin. Wanda kann ihm nur gefallen, wenn sie alles, was er ihr beibringt, brav aufsagt, und fällt beim ersten Mal, da sie Widerstand zeigt, sofort in Ungnade. Ihre Mutter braucht lange, um sich auf die eigenen Beine zu stellen – fast so lange wie Rita –, aber schließlich tut sie es doch.

Drei Geschichten sind in Kerstin Hensels Buch Federspiel versammelt. Warum sie als Liebesnovellen bezeichnet werden, vermag ich nicht nachzuvollziehen, geht es doch eher um Ablösung und Unabhängigkeit von Frauen. Die mittlere Geschichte besteht zudem aus einem einzigen Satz, der sich über 6,5 Seiten schlängelt, und scheint mir auch keine Liebesnovelle zu sein. Wie dem auch sei, Kerstin Hensel hat einen recht ruppigen, widerborstigen Stil, der mich kratzt und ein unangenehmes Gefühl auf meiner Haut hinterlässt. Wie so oft finde ich nicht in ein Buch hinein, in dieses nämlich. Die Handlungsweise der Figuren wirkt auf mich verwirrend und befremdlich, ihr Inneres ergründet sich mir in der Kürze der Zeit nicht. Manchmal kommt es mir sogar vor, als hätte ich entscheidende Informationen überlesen, nur um beim Zurückblättern festzustellen, dass sie gar nicht da sind. Keine der diversen Figuren hat Interesse oder gar Zuneigung in mir ausgelöst, und obwohl ich durchaus gespannt war, wie die Geschichten weiter- und ausgehen, hat es mir letztlich nichts bedeutet, sie gelesen zu haben. Ich kam mir vor wie im Museum, wo man mir etwas zeigt, das Kunst ist, und ich nicht verstehe, warum.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
fürs Auge: ein eher langweiliges Cover.
… fürs Hirn: mal zu versuchen, nicht den Faden zu verlieren bei einem Satz, der über 6 Seiten lang ist.
… fürs Herz: da finde ich nicht viel, alles erscheint mir ein wenig krampfig.
… fürs Gedächtnis: nichts.

Juliane Hielscher: Vom Leben und Sterben der Pinguinfische

„Jeder Gast bekommt bei seinem Besuch eine Geschichte geschenkt“
Helene und Lena: Zwei Frauen, die es aus unterschiedlichen Gründen in ein kleines Dorf an der spanischen Nordwestküste verschlägt. Helene hat hier einst schöne Momente verbracht und weiß nach einem schweren Schicksalsschlag keinen Ort, an den sie sonst gehen könnte. Sie wird von der Klosterschwester Hermana Consuelo liebevoll umsorgt und gepflegt. Lena ist erst 18 und liegt mit der ganzen Welt im Clinch, weil niemand sie versteht und keiner sie liebt. Die spießigen Eltern hatten genug von Lenas Rebellion und schickten sie zum Onkel, wo sie die Kinder hüten soll. Wie alle Dorfbewohner wird Lena aufmerksam auf die stumme verzweifelte Frau, die jeden Tag ruhelos am Strand entlangrennt, um dann zusammenzubrechen und lethargisch aufs Meer zu starren: Helene. Sie will Helenes Geheimnis ergründen und nähert sich ihr an. In ihrer Jugendlichen Großkotzigkeit geht sie beim Herumstöbern in Helenes Vergangenheit nicht gerade feinfühlig vor – und bringt sich schließlich selbst in die Bredouille …

Es gibt Bücher, die machen es mir schwer. Sie zeigen mir Seiten, die mir außerordentlich gut gefallen, und enthalten Sätze, bei denen ich zustimmend nicken mag. Gleichzeitig sind sie aber stellenweise so anstrengend, langweilig und bescheuert, dass ich nicht weiterlesen will. Vom Leben und Sterben der Pinguinfische von Juliane Hielscher ist so ein Buch. Das Setting ist schön, das Meer rauscht, die Menschen in dem spanischen Dorf tragen ihre Geschichten im Herzen und auf der Zunge. Zwei Frauen treffen hier aufeinander, die verschieden sind, aber sich selbst im Schmerz der anderen erkennen. Wobei Helene viel authentischer wirkt als Lena, die mit ihrer Bockigkeit und ihrem Selbsthass ein richtig blödes Gör ist. Ihre Art, mit Helenes Traurigkeit umzugehen, ist unerträglich, und weil ich dauernd lesen muss, dass sie dumme Dinge sagt wie: „Die hat doch so ein Trauma wegen dieses Kindes. Die kapiert doch gar nicht, was mit ihr los ist“, würde ich das Buch am liebsten in die Ecke pfeffern. Aber dann wieder hält mich ein schöner Gedanke, ein guter Satz bei der Stange und ich breche das Buch nicht ab (wer mich kennt, weiß, dass ich ja generell ein Problem damit habe). Hätte ich es mal lieber gemacht. Denn natürlich ist ein Roman, der mich nicht gleich überzeugt, fast immer Zeitverschwendung – das hat mich meine lange Leseerfahrung gelehrt. Und als dann das dicke Ende kommt, ist es dermaßen überzogen und unbegreiflich, dass … ich gar nicht mehr darüber reden mag.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein uninteressantes Buch, aber ein wahnsinnig tolles Cover – das bisher schönste 2012. Wenn man den Schutzumschlag entfernt, ist man am Meer.
… fürs Hirn: für mich nur die Qual, das Buch schlecht, aber nicht schlecht genug zu finden.
… fürs Herz: Helenes großer, sehr trauriger Verlust.
… fürs Gedächtnis: endlich zu lernen, Bücher abzubrechen.

Tommy Wieringa: Der verlorene Sohn

„Ich bin eine Grille, ich spiele Lieder in der Sonne“
„Wir lebten am Rand der Welt und konnten jederzeit herunterfallen.“ Im Fall von Ludwig ist das wörtlich gemeint: Früher wohnte er mit seiner Mutter an der englischen Ostküste in einem Haus, das so nah an den Klippen stand, dass das Meer ihnen den sandigen Boden unter den Füßen wegfraß – bis schließlich alles versank. Auch zuvor hatte Ludwig einmal seine Heimat verloren, als er nach dem Weggang des Vaters mit seiner Mutter Alexandria verließ. Nun ist er erwachsen, verdient sein Geld als Pianist in Bars und kehr für eine Beerdigung nach Reading zurück. Die Asche seiner Mutter hat er in einer Urne bei sich. Was ist geschehen zwischen damals und heute? Ludwig erzählt es seiner Barbekanntschaft in den gemeinsamen Nächten: wie er seiner Mutter, einer Pornodarstellerin, in die USA folgte und sich dort verliebte und wie er schließlich den Vater, einen der Welt entrückten und völlig wahnsinnigen Künstler, fand.

Tommy Wieringa ist ein vielgerühmter Autor, der 2006 mit Joe Speedboat Beachtung fand. Ich bin durch eine Empfehlung zu diesem Schriftsteller gekommen – aber ich konnte seinem zweiten Roman wenig abgewinnen. Zwar klingt die Geschichte in ihren Möglichkeiten vielversprechend – Mutter Pornodarstellerin, Vater Künstler, wie entwickelt sich der Sohn? –, doch in der Umsetzung war sie mir zu langweilig. Protagonist Ludwig hat sich zwar viel bewegt in jungen Jahren, er wurde abgeschoben, umgesiedelt, zurückgelassen, aber wenig davon, so scheint es, hat ihn bewegt. Natürlich ist seine abgebrühte Art nur ein Schutz – aber ich möchte von solchen Männern, die nie Zugang zu ihrer Gefühlswelt geben, nicht lesen. Ludwig wirkt auf mich wie einer jener Männer, die reden und reden und dabei wenig sagen. Er schneidet sich seine große Liebe grundlos aus dem Herzen und gibt sich cool.

Nur für seine Mutter bringt Ludwig sehr wohl Gefühle auf – und zwar sexueller Art. Das ist irritierend. Vielleicht möchte der Autor damit ausdrücken, dass Ludwig mit der Berufswahl seiner Mutter nicht klarkommt. Doch schon als kleiner Junge ist Ludwig von seiner Mutter erregt und später sagt er beispielsweise: „Du schamloses Wesen, dachte ich, mit deinen herrlichen Titten. Ich sah ihr nach, ihrem prallen Po und ihren vollen Schenkeln. Ich warf meine Kleidung ab und folgte ihr. Als ich den Kopf untertauchte, dachte ich an ihren Urin, in meinem Zustand war alles sexuell aufgeladen.“ Ludwigs Konzentration auf seine Mutter hat krankhafte Auswüchse, dennoch ist ihre Beziehung nicht liebevoll. Dass dieses Tabu gebrochen wird, stört mich nicht weiter, aber da sich mir der Grund dafür nicht erschließt, fühle ich mich klarerweise abgestoßen. In all diesen Geflechten im Buch gibt es mit Sicherheit noch mehr zu entdecken, aber mir fehlte das Interesse, nach Bedeutsamkeit zu suchen. Denn Tommy Wieringa hat mit seinem Stil meinen Lesegeschmack nicht getroffen. Ich wünsche mir Bücher, deren Sprache wie eine Melodie erklingt, ganz egal, in welchem Tempo, und abgeschmackte Sätze wie „So ist das Leben, Herzchen … So ist es, wenn man erwachsen wird“ ertrage ich nur schwer. Der verlorene Sohn und ich sind uns nicht nahe gekommen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
Hanser-Cover sind in ihrer kraftvollen Schlichtheit immer sehr schön. Auch wenn ich nicht weiß, was das mit dem Pferd soll.
… fürs Hirn: die Frage: Was tust du, wenn du einen Porno anschaust und auf einmal deine Mutter mitspielt?
… fürs Herz: Ludwigs Verlorenheit.
… fürs Gedächtnis: merke: weniger online kaufen und öfter in einer Buchhandlung in ein Buch reinlesen. Dann wäre dieser Fehlgriff nicht passiert.