Das Bücherwurmloch zieht um!

36731289Zeit is wordn …
… wie der Österreicher sagt: Nach sieben Jahren unter der WordPress-Subdomain bekommt das Bücherwurmloch in Kürze endlich eine eigene. Jaaa, dagegen habe ich mich lange gewehrt, habe den Aufwand gescheut und mir immer gedacht, dass es das alles ja nicht wert sei, später hatte ich dann Angst davor, all die schönen Verlinkungen zu verlieren und wieder bei Null anfangen zu müssen. Davor fürchte ich mich auch jetzt noch. Aber nun, irgendwie hat sich der Blog doch ein bisschen in der„Szene“ etabliert, und ich werde immer wieder auf den fehlenden Coolnessfaktor hingewiesen. Der Auslöser ist nun aber, dass ich ab Mai jede Woche in einem neuen Salzburger Stadtmagazin Platz für zwei Buchtipps bekomme, bei denen meine Domain genannt wird. Müsste dann dort buecherwurmloch.wordpress.com stehen, wäre das einfach nicht sexy. Also hab ich mich endlich überreden lassen (besser spät als nie), und hinter den Kulissen wird bereits unter Hochdruck am Umsiedeln des Blogs gearbeitet.

Während viele von euch sich demnächst in den Trubel der Leipziger Messe werfen, stelle ich mich einer ganz anderen Herausforderung: Alles so, wie es hier ist, unter neuer URL wieder einzurichten. Möge es gelingen, ohne dass die Hälfte verloren geht und ohne dass (um beim österreichischen Sprachgut zu bleiben) es feigelt. Diese Woche wird es deshalb hier keine neue Rezension geben – dafür aber bald auf der neuen Domain. Ich hoffe natürlich sehr, dass ihr mir dorthin folgen werdet!

Zuversichtliche, leicht nervöse Grüße von
Mariki

Jakob Hein: Kaltes Wasser

HeinEin Schelm, wer sich stets was Neues ausdenkt
Friedrich Bender ist ein Jugendlicher in der DDR. Das Leben dort ist einigermaßen öde, aber Friedrich ist überraschend kreativ: Wo keine Geschichten sind, da erfindet er welche. Zum Beispiel vor der gesammelten Klasse, der er regelmäßig berichten muss, was in der Zeitung steht. Keine sozialistische Zeitung ist derart spannend wie seine Erzählungen. Am interessantesten finden die Klassenkameraden freilich Friedrichs Freundin in Bristol, in die er wahnsinnig verliebt ist – und die es leider gar nicht gibt. Während die Wende vielen Menschen, wie auch Friedrichs Eltern, den Boden unter den Füßen wegzieht, sieht er ein Paradies an neuen Möglichkeiten. Durch Einfallsreichtum gelangt er an Geld, Freunde, Frauen und einen Uniabschluss. Die Frage ist nur: Lässt sich ein ganzes Leben auf Lug und Trug aufbauen – oder bricht das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen?

Kaltes Wasser von Jakob Hein wird auf dem Klappentext Schelmenroman genannt. Und das trifft es genau: Dies ist ein Schelmenroman par excellence. Und Protagonist Friedrich Bender ist ein ganz wunderbarer Schelm. Eigentlich ein 08/15-Typ, der sich von den Grenzen, die das Leben ihm auferlegt, schlicht nicht aufhalten lässt. Seine Fantasie überflügelt alles. Die Berliner Mauer hindert ihn daran, die DDR in der Realität zu verlassen. Aber in seinem Kopf reist er tatsächlich zu seiner Freundin nach England. Und das ist erst der Anfang – die Wende inspiriert ihn zu wahren Höhenflügen. Es gelingt dem deutschen Autor, der bereits 14 Bücher veröffentlicht hat, bestens, originelle Einfälle auf glaubwürdige Weise zu präsentieren. Das macht richtig viel Spaß. Ich weiß nie, was Jakob und Friedrich als Nächstes einfällt – und ich amüsiere mich prächtig mit diesem Buch. Es ist locker, luftig, schlau, witzig und ernst zugleich.

Jakob Hein ist ein Garant für niveauvolle Unterhaltung. Ich habe von ihm vor vielen Jahren Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht gelesen. Sein neuester Clou driftet trotz allen Schelmentums nie ins allzu Seichte ab und hat bei aller Heiterkeit stets einen leicht zynischen, vernunftvollen Hintergrund. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, aber insgesamt hat dieses Buch mir einen ganz herrlichen Ausflug ermöglicht in eine längst vergangene Zeit, als man noch – frei von virtueller Kontrolle – ein Schwindler sein konnte, verwegen und voller verrückter Einfälle. Dieser Roman ist ein kleines Stelldichein mit der Leichtigkeit der Fantasie.

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Kaltes Wasser von Jakob Hein ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-125-6, 240 Seiten, 18,99 Euro).

Sven Heuchert: Asche

thumb_IMG_9179_1024.jpgWenn man verbrennt, tief innen drin
Einer packt ein Mädchen, tritt es in den Keller, missbraucht es und donnert es an die Wand, bis es sich nicht mehr rührt. Ein anderer ist alt geworden während der Arbeit in der Fabrik, tagein, tagaus, und jetzt, wo seine Arbeitskraft nichts mehr wert ist, bleibt ihm nur die Kneipe, wo die Kumpel sitzen und es nach Bier riecht, nach Kotze, Tschick und Wut. Resignation, Frust, Gewalt: Das ist die Mischung, die das Blut der Männer zum Kochen bringt, der Alkohol und das Fehlen von Perspektiven tun ihr Übriges. Manch einer will ausbrechen aus dem Trott der Generationen, will studieren und ein besseres Leben haben, aber wenn er es nicht schafft, muss er zurück in die Welt der Verlierer. Und er muss prügeln, er muss Knochen krachen lassen, damit er überhaupt noch was hört in seinem tiefen, gedämpften Sumpf aus abgestorbenen Träumen.

Milieustudie ist ein wirklich abgeschmackter Begriff. Trotzdem trifft er zu auf Sven Heucherts schonungslose Geschichten: Der junge deutsche Autor bildet in seinen Debütstorys eine Gesellschaftsschicht ab, die Arbeiterschicht, greift sich eine Handvoll Figuren aus der Masse der Hunderttausenden und zeigt, wie sie leben. Das tut er auf eindringliche wie authentische Weise: So knallhart und verdichtet ist seine Sprache, dass sie wirkt, als käme sie direkt aus den Mündern dieser Menschen. Wie Ohrfeigen sind die Worte, wie Schläge in den Magen, und wuchtiger noch sind ihre Inhalte: Von Einsamkeit erzählen sie und von Schmerz, von Alkoholismus und Brutalität. Hackler heißen diese Arbeiter auf Österreichisch, doch egal, wie man sie nennt: Ihr Leben ist hart. Ihre Hände sind rau und vernarbt, ihre Herzen sind es auch.

Sven Heucherts Figuren sind Männer. Auf Frauen treten sie drauf, wenn sie ihnen unterkommen, Frauen suchen sie, um abzuladen, was sich aufgestaut hat, Frauen sind anwesend. Aber die eigentlichen Figuren sind Männer. Wenn sie ein Kind zeugen, behalten sie die Frau dazu, versorgen sie, fühlen sich ihr verpflichtet, füllen die Leere im Inneren mit Bier. Liebe gibt es nicht, nur in kleinen Dosen vielleicht, als ein Aufeinander-angewiesen-Sein, als ein Mittel gegen das Alleinsein oder in der Form von Sex. Frauen werden gejagt, vergewaltigt, blutig geschlagen und liegengelassen. Sie sind Objekte der Begierde, sie sind das, was man sich nimmt, oder das, was zuhause sitzt und einem auf die Nerven geht. Dazwischen gibt es wenig, einen heimlichen Blick vielleicht, eine einzige zärtliche Geste.

Sven Heucherts Storys sind selbst wie Männer: Sie benutzen nicht viele Worte. Er ist ein Meister der Verknappung, sparsam geht er um mit seinem Werkzeug Sprache – und schafft es trotzdem, viel zu sagen. Deshalb ist sein Buch Asche, auf das Tobias vom Buchrevier aufmerksam gemacht hat, so hervorragend. Auch wenn ich oft vom Dialekt in den Dialogen nicht viel verstehe, ist die Botschaft klar: Da suchen Menschen nach dem Glück, wühlen danach, graben, bis ihnen die Fingernägel brechen, und finden nichts weiter als ein schwaches Schimmern. Ein desillusionierendes, lebensnahes, starkes Buch.

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Asche von Sven Heuchert ist erschienen im Bernstein Verlag (ISBN 978-3-945426-13-5, 184 Seiten, 12,80 Euro). Eine weitere Besprechung findet ihr auch bei Sophie von Literaturen.

High Five mit Mercedes Lauenstein

mercedes_03.jpgWenn ich eine Figur aus einem Roman wäre, dann … wäre oder sein dürfte? Wenn Zweiteres: Huck Fynn. Ersteres funktioniert nicht, dafür bin ich dann doch zu sehr ich.

Ich ordne meine Bücher neuerdings nach gelesen und ungelesen, das stiftet mich am meisten zum Lesen an. Ist nämlich erschreckend zu sehen, wie wenige der Bücher in meinem Regal ich gelesen habe und wie viele noch darauf warten.

Das Cover meines aktuellen Buchs ist zum Glück recht ansehnlich geworden. War nicht so einfach.

Viel zu selten verwendet wird das Wort kann ich mich so schnell nicht festlegen. Aber wenn man auf der Suche nach starken, etwas aus der Mode geratenen Vokabeln ist, sollte man unbedingt im Dornseiff, in Raddatz- oder in Tuchoksly-Büchern danach suchen.

Das Buch meines Lebens gibt’s nicht, es sei denn ich würde es aus unzähligen Passagen unterschiedlicher Bücher selbst zusammenstellen. Wichtige Autoren für mich sind aber zum Beispiel Herrndorf, Céline und Bouvier.

Lauenstein

Mercedes Lauenstein, 1988 in Kappeln an der Schlei geboren, arbeitet in der jetzt-Redaktion der Süddeutschen Zeitung und schreibt als freie Autorin Essays und Reportagen für Zeitungen und Magazine. 2015 erschien ihr Debüt Nachts im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03614-0, 191 Seiten, 18,95 Euro). Foto von Juri Gottschall.

Emanuel Bergmann: Der Trick

thumb_IMG_9177_1024.jpg„Wahre Zauberkunst ist das Spektakel, die Illusion, die Unterhaltung“
„Wir sind hier beim Zirkus. Wir sind alle gleich. Im Theater ist jeder ein Edelmann Wir sind Künstler, und es gibt nichts Edleres als die Kunst.“ Das kommt dem 15-jährigen Mosche Goldenhirsch sehr entgegen, denn er ist Jude, in einer Zeit, in der es nicht gut ist, Jude zu sein. Wir schreiben das Jahr 1934, und Mosche ist seinem Vater weggelaufen, um sich dem Zirkus des Halbmondmanns anzuschließen. Er verliebt sich unsterblich in Julia, die Assistentin des Halbmondmanns, und bei den beiden lernt er alles, was er über die Kunst der Illusion und der Täuschung zu wissen gibt. Doch die Schergen der Nazis lassen sich nicht für immer austricksen. Viele Jahrzehnte später, im Jahr 2007, hat in Los Angeles der zehnjährige Max Cohen ein Problem: Seine Eltern lassen sich scheiden, und er muss das verhindern. Deshalb klettert er aus dem Fenster, um den großen Zauberer Zabbatini zu finden, der seine Familie retten soll. Doch der alte Mann hat darauf überhaupt keinen Bock …

Ein Wunderwerk ist Der Trick von Emanuel Bergmann, ein Zauberding, ein Buch voll doppelter Böden und Überraschungen. Der deutsche Autor, der jahrelang für Filmproduktionen in LA sowie für deutsche Verlage tätig war, hat eine wunderbare Geschichte mit Tiefgang geschrieben, die sich trotzdem leicht liest. Zwei Handlungsstränge gibt es, einen vergangenen und einen gegenwärtigen, sowie zwei Buben, deren Leben verschiedener nicht sein könnte: Der eine ist ein Jude in höchster Gefahr, der andere ein verwöhntes Einzelkind. Als einer von beiden ein alter Mann ist, treffen sie aufeinander. Ein Kauz ist dieser alte Mann, kratzbürstig, egoistisch und versoffen. Schüchtern und ratlos ist dagegen der kleine Junge, der unbedingt einen Liebeszauber braucht, damit sein Vater wieder zurückkommt.

Nichts an diesem Buch ist banal, im Gegenteil: Es ist vielschichtig und originell, raffiniert und gewitzt. Gefühle aus der Vergangenheit wirbeln auf wie Ascheflocken, aber von sentimentalem Kitsch ist Emanuel Bergmann meilenweit entfernt. Das macht seinen Roman so großartig: Er gesteht seinen Figuren Grant, Missgunst und Angst zu, er lässt sie authentisch sein, überfordert, unfreundlich, menschlich. Es ist die Definition von Galgen- bzw. Schwarzem Humor, dem Tod ins Gesicht zu lachen. All das Grauen, all der Schrecken der Judenverfolgung im Deutschen Reich sind in diesem Buch enthalten – und trotzdem vermittelt es eine Art gelöste Heiterkeit. Das ist perfekt austariert, ausgezeichnet geschrieben, nie unsensibel, sondern stets unterhaltsam auf hohem Niveau. Ein Buch wie ein verblüffend guter Zaubertrick.

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Der Trick von Emanuel Bergmann ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN
978-3-257-06955-6, 400 Seiten, 22 Euro).

 

Catalin Dorian Florescu: Der Mann, der das Glück bringt

Florescu.JPG„Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern nur, wer du vorgibst zu sein“
New York, 1899. Ein kleiner Junge schlägt sich durch: Er versucht Zeitungen zu verkaufen, putzt Schuhe, singt für die Huren und hofft jeden Abend, dass er genug Cent beisammen hat, um einen Schlafplatz im Heim und was zu essen zu ergattern. Mit den Gleichaltrigen gibt es keinen Zusammenhalt – wer etwas hat, das ein anderer will, wird verprügelt. Besonders im Ghetto sterben die Menschen im Stundentakt – und werden mit dem Totenschiff weggebracht. Der Junge, der sich später Berl und dann Paddy nennt, beschließt, niemals auf diesem Schiff zu landen – auch wenn er dafür Dinge tun muss, die er nie mehr vergessen wird. Elena dagegen, die in Rumänien in einem Donaudelta aufwächst, das man so gut wie gar nicht verlassen kann, würde alles geben, um nach Amerika zu gelangen. Doch eine schreckliche Krankheit macht alle Pläne zunichte. Erst viele Jahrzehnte später haben die Enkel dieser beiden Menschen die Chance, eine Art Erlösung zu finden.

Catalin Dorian Florescu in Rumänien geboren und hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mich 2011 Jacob beschließt zu lieben sehr berührt hat. In seinem neuesten Buch öffnet er die Türen zu zwei Welten: zum alten, frostigen New York, einer Stadt voll Armut, Hunger und Elend, sowie zu einem winzigen rumänischen Dorf an der mitleidslosen Donau. Ein Mädchen und ein Junge, die Tausende Kilometer voneinander entfernt sind, versuchen zu überleben. Sie werden einander nie kennenlernen – ihre Enkel Ray und Elena jedoch schon. Als die Zeiten anders sind, als es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, dafür aber Flugzeuge, scheint die Entfernung zwischen diesen beiden Kontinenten nicht mehr unüberwindbar. Genau dasselbe liegt für die inneren, menschlichen Unterschiede. Diese Annäherung kann vielleicht Versöhnung bringen für die Vorfahren.

Die Geschichte von Der Mann, der das Glück bringt ist schön. Sie ist wild, spannend, melancholisch und originell. Eine prächtige Vielfalt an Details springt mich an, und Catalin Dorian Florescu ermöglicht mir eine Zeitreise in ein über 100 Jahre altes New York, über das er sorgfältig recherchiert hat. Ebenso lebendig sind seine Schilderungen des Lebens in Rumänien, das entbehrungsreich ist und hart, voller Sehnsucht und Enttäuschung. Manch sprachlicher Schnitzer und so einige Wortwiederholungen seien ihm angesichts der prallen, fesselnden und absolut lesenswerten Story verziehen. Ein gutes Buch lässt dich vergessen, an welchem Ort und zu welcher Zeit du dich gerade befindest. Dies ist ein solches Buch.

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Der Mann, der das Glück bringt von Catalin Dorian Florescu ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-69112-6, 327 Seiten, 19,95 Euro).

Atticus Lish: Vorbereitung auf das nächste Leben

Lish„Wusstest du, dass es einen Ort gibt, wo es besser ist als überall sonst?“
Die Gegend, aus der die Kriegswaise Zou Lei kommt, kennt niemand: Sie ist Uigurin. Ohne Geld und ohne Papiere kommt sie nach monatelanger Reise in die USA, wo sie extrem unterbezahlte Jobs annimmt und in heruntergekommenen Löchern haust. „Sie wollte dort sein, wo jeder so illegal wie sie selbst war und in der Menge verschwand und den Kopf einzog.“ Deshalb geht Zou Lei nach New York, wo sie auf den Kriegsveteranen Brad Skinner trifft. Er ist gerade von seinem dritten Einsatz im Irak zurückgekehrt, und obwohl er körperlich unversehrt ist, ist er ein Zerschossener. Er kann nicht arbeiten, trinkt zu viel Bier, wohnt in einem Kellerzimmer. „Die Army hatte ihn mit Pillen gegen Angst, mit Antipsychotika und Schlafmitteln versorgt. Was auch immer diese Chemikalien mit ihm anstellten, seine Albträume konnten sie nicht verhindern.“ Die beiden kommen zusammen, vielleicht verlieben sie sich ein bisschen, vielleicht wollen sie auch einfach nur nicht allein sein in diesen einsamen New Yorker Nächten. „Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, für uns beide nicht, sagte sie, denn vielleicht wird etwas Gutes passieren.“ Doch die Hoffnung ist mehr als trügerisch, nichts Gutes passiert, gar nichts.

Vorbereitung auf das nächste Leben von Atticus Lish ist ein niederschmetterndes Buch. Es ist wahnsinnig deprimierend und traurig. Der amerikanische Autor, der bereits die verrücktesten Jobs ausgeübt hat und selbst schon im Gebiet der Uiguren in China war, lebt in New York wie seine Protagonisten. In seinem Debüt erzählt er die Geschichte zweier Menschen, die gestrandet sind in der Anonymität und Gleichgültigkeit einer Metropole, die täglich Tausende solcher Menschen verschlingt. Das Leben ist ebenso gefährlich wie gnadenlos, Zou Lei und Brad müssen stets auf der Hut sein – vor der Polizei, vor Schlägern, vor einander. Zou spricht ein rudimentäres Englisch, Brad dagegen spricht kaum. In der Nacht drängen sie sich aneinander wie zwei Vögelchen, die Angst haben, aus dem Nest zu fallen. Kann das Leben gnädig zu ihnen sein? Ich wünsche es mir. Ich wünsche es mir die ganze Zeit. Aber Atticus Lish nimmt darauf keine Rücksicht.

Das Leben ist hart. Natürlich! Für Zou und Brad ist es besonders hart. Unerträglich sogar. Es bricht mir das Herz, zuzusehen, wie sie sich an das bisschen Gefühle, das zwischen ihnen entsteht, klammern, um wenigstens ein kleines Glück zu erleben. Es bricht mir das Herz noch mehr, dass es ihnen nicht vergönnt ist. Sprachlich ist das nicht immer fein austariert, und vom Sohn des berühmten Lektors Gordon Lish habe ich mir in dieser Hinsicht definitiv mehr erwartet. Langatmig schreibt er, manchmal verquer und in schiefen Bildern, durchaus ergreifend, aber ausufernd. Da muss man als Leser viel Durchhaltevermögen beweisen, und wird am Ende mit einer alles umspannenden Hoffnungslosigkeit allein gelassen. Dieser Roman ist erdrückend, schonungslos, grausam, authentisch – denn jede Zeile könnte tatsächlich so geschehen sein.

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Vorbereitung auf das nächste Leben von Atticus Lish ist erschienen im Arche Verlag (ISBN  978-3-7160-2745-5, 544 Seiten, 24,90 Euro). Auf spiegel.de und welt.de findet ihr weitere Besprechungen.

Amy Waldman: Der amerikanische Architekt

Waldman.JPG„Manche Tage sind wie manche Menschen. Man kann sie nur schwer vergessen“
Nach endlosen Diskussionen hat sich die Jury endlich auf einen Entwurf für die Gedenkstätte an der Stelle des World Trade Centers geeinigt: Ein symbolträchtiger Garten soll dort in Zukunft an die Anschläge vom 11. September 2001 erinnern. Doch als der anonyme Umschlag mit dem Namen des Architekten geöffnet wird, sind alle schockiert. Es ist ein Moslem. Was sollen sie nun machen? Während die Jurymitglieder noch vor Ratlosigkeit gelähmt sind, dringt die Nachricht bereits nach draußen und löst einen Sturm der Erregung aus. Die Presse überschlägt sich, die Angehörigen der Opfer gehen auf die Barrikaden, die Situation gerät völlig außer Kontrolle. Auch der Architekt bekommt vor der eigentlichen Bekanntmachung Wind davon und gerät ins Kreuzfeuer: Mohammed Khan ist Amerikaner und nicht religiös. Doch das nützt ihm mitten in der losbrechenden Hetze wenig. Die reiche und schöne Claire, die im WTC ihren Mann verloren hat und als Stellvertreterin der Angehörigen in der Jury saß, sieht sich ebenfalls Anfeindungen und offenem Hass ausgesetzt. Ist Amerika ein Land der Toleranz, in dem jeder einen offenen Wettbewerb gewinnen kann, unabhängig von seiner Nationalität und Religion? Wäre ein muslimischer Architekt ein Sieg über den Terror oder doch eine Genugtuung für die Attentäter und ein Schlag ins Gesicht für alle, die jemanden verloren haben? Darüber denkt jeder anders.

Das Beste an Der amerikanische Architekt von Amy Waldman ist die Idee hinter der Geschichte: Die Ausgangslage fand ich derart originell, dass ich das Buch schon lange auf der Wunschliste hatte. Was wäre denn wirklich, wenn man in eine derart konfliktreiche Situation gelangen würde? Das klang in der Theorie überaus spannend. In der Praxis ist es das jedoch nur bedingt. Zwar hat die amerikanische Autorin, die als Journalistin für die New York Times in Südasien war, das vermeintlich Beste aus ihrer Idee an sich gemacht: Sie lässt einen Tornado der Empörung losbrechen, bringt eine skrupellose kleine Reporterin ins Spiel, zeigt die berechnende Vorgehensweise jeder einzelnen gegnerischen Gruppe, beleuchtet die Gefühle der Witwe Claire und gibt auch dem Architekten Mo eine eigene Perspektive. Bloß führt das alles nirgendwo hin. Auf über 500 Seiten schafft sie es nicht, aus ihrem Ausgangsszenario eine gute Geschichte zu weben, sie tritt die ganze Zeit auf der Stelle. Keine der Parteien ist zu einem Kompromiss bereit, nein, ein Kompromiss ist in dieser Lage gar nicht möglich. Seiten über Seiten gehen alle einen Schritt vor und einen zurück.

Die Protagonisten sind extrem unsympathisch und treten auf wie blasse Pappfiguren. Claire als traurige Hinterbliebene fühlt ganz klischeehaft alles, was man an ihrer Stelle eben so fühlen muss. Architekt Mohammed ist ein extrem undurchsichtiger Charakter, dessen Verhalten nicht im Geringsten nachvollziehbar ist und der alles nur noch schlimmer und schlimmer macht, sich dabei selbst unendlich leidtut und mir schlichtweg wahnsinnig auf die Nerven geht. Die platten Dialoge sind fad und öd, das ganze zündende Pulver der Konfliktsituation verpufft irgendwann ungenutzt. Diese meine Meinung ist freilich subjektiv, denn es wurde über Der amerikanische Architekt allerlei Gutes geschrieben: bei Literaturen, Standard, Spiegel und FAZ. Ich konnte jedenfalls nichts damit anfangen, gar nichts, nicht einmal ein bisschen was. Ich hab mich gelangweilt, gewundert und geärgert. Ein selten schlechtes Buch.

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Der amerikanische Architekt von Amy Waldman ist erschienen bei Schöffling & Co. (ISBN 978-3-89561-491-0, 512 Seiten, 24,95 Euro).

11 Gründe, warum „Lesen als Medizin“ von Andrea Gerk gut ist

  1. GerkDieses intelligente, informative Sachbuch über die heilsame Wirkung des Lesens enthält Sätze wie: „Bücher können Trost schenken, Mut machen, Spiegel vorhalten, Zuflucht sein, Erfahrungen vermitteln, Perspektiven ändern, Sinn stiften. Bücher amüsieren und berühren. Und sie können ablenken – nicht zuletzt von uns selbst.“
  1. Ich lese eigentlich nie Sachbücher, nicht mehr, habe dieses hier aber bei Sophie und Mara entdeckt – und war so neugierig, dass ich es haben musste. Eine kluge Entscheidung!
  1. Ich habe mich noch nie damit beschäftigt, warum ich lese. Ich tue es einfach, es ist für mich selbstverständlich. Andrea Gerk hat mich mit ihrer historischen und wissenschaftlichen Übersicht zum Nachdenken angeregt – was bedeutet das Lesen an sich? Was wäre, wenn ich nicht lesen könnte, wenn ich keinen Zugang zu Büchern hätte? Ich schätze mich nun noch glücklicher, dass es so viel Lesestoff in meinem Leben gibt.
  1. Jetzt, wo ich mich mehr damit auseinandergesetzt habe, finde ich die menschliche Fähigkeit des Lesens noch ein bisschen wunderbarer.
  1. „Prosa und Gedichte sind wie Medikamente. Sie heilen den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet.“
  1. Dies ist das absolut perfekte Buch für bibliophile Menschen. Wer nicht liest, wird nichts damit anfangen können. Wer dagegen viel liest, der MUSS sich dieses Buch unbedingt holen!
  1. Sehr interessant sind die Listen mit „Büchern, die mich stark beeinflusst haben“ von bekannten bzw. im Buch vorkommenden Menschen.
  1. Der große Themenreichtum – von Neurowissenschaft über misshandelte Kinder bis zu Klöstern und Gefängnissen – ist fantastisch.
  1. Andrea Gerk hat ihr Buch gespickt mit persönlichen Erfahrungen, die ihm einen authentischen Touch geben.
  1. Viel Wahrheit steckt in den Zeilen, wie beispielsweise in diesen: „Worte entfalten mitunter eine magische Kraft, die uns nicht nur intellektuell voranbringt, sondern auf vielschichtige Weise im Inneren berührt. Manchmal so sehr, dass ein Vers, eine Erzählung, ein Roman das ganze Leben verändern kann, und sei es nur für ein paar Stunden.“
  1. Dieses Buch packt mich an der Wurzel meines Seins: Lesen.

Lesen als Medizin. Die heilsame Wirkung der Literatur von Andrea Gerk ist erschienen bei Rogner & Bernhard (ISBN 978-3-95403-084-2, 324 Seiten, 22,95 Euro).

Frank O. Rudkoffsky: Dezemberfieber

Rudkoffsky.JPG„Manchmal habe ich das Gefühl, dass schon hinter kleinsten Rissen ein Abgrund klafft“
Endlich ist es soweit: Bastian und Nina fliegen in den Urlaub nach Thailand. Darauf freuen sich die beiden, die eine Fernbeziehung führen, seit Monaten. Beinahe hätte es nicht geklappt, denn Bastians Vater ist kurz zuvor gestorben, und einen Streik gab es auch noch. Er hat es aber rechtzeitig geschafft, die Beerdigung abzuwickeln und den Nachlass zu regeln. An Entspannung ist in Thailand trotzdem nicht zu denken: Während Nina vor Tatendrang sprudelt, will Bastian sich eigentlich nur betäuben. Deshalb taumelt er von Bar zu Bar, verschwitzt, verärgert, mit der Bürde der Vergangenheit auf den Schultern – und einer genervten Freundin an der Seite. Was tut ein Mann in einer solchen Situation? Richtig. Er haut ab. Bastian schließt sich einer Gruppe rund um eine geheimnisvolle Frau an, die eine Art Geocaching-Abenteuer inszeniert. Doch egal, mit wem oder wohin Bastian geht: Was einst mit seiner Mutter geschehen ist, verfolgt ihn überallhin.

Frank O. Rudkoffsky hat ein Buch über einen jungen Mann geschrieben, der glaubt, der Tod seines Vaters würde ihm nicht den Boden unter den Füßen wegziehen – und der nicht merkt, dass er längst dabei ist, in den Abgrund zu fallen. Weil er es nicht wahrhaben will. Weil er sich mit Händen und Füßen wehrt – und dabei jeden schlägt, der in seine Nähe kommt. Allen voran natürlich Freundin Nina, die als geradezu nervtötend perfekt beschrieben wird. Da gibt es Spannungen, die schon lange in der Beziehung sitzen, und Spannungen, die von Bastian induziert sind, weil er in einer selbstzerstörerischen Phase steckt. Was genau in Bastians Kindheit geschehen ist, erklärt der Autor anhand von Briefen bzw. Nachrichten in einem Buch, in dem Bastians Eltern miteinander geschrieben haben, als sie wegen der Depression von Bastians Mutter nicht mehr offen miteinander reden konnten. Nach dem Tod des Vaters besitzt nun Bastian dieses Buch. Nur erträgt er es nicht, darin zu lesen.

Ich mag an Dezemberfieber die Sprache. Ich mag einzelne Szenen, wie beispielsweise dass die Zikaden aufschrillen, als Bastian und die fremde Frau sich anschauen. Ich mag den Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit im Spiel der Perspektiven. Was ich an Dezemberfieber nicht mag, ist Bastian. Ganz unerträglich finde ich den egozentrischen Kerl. Wie ihm in der Hitze Thailands alles entgleitet, ist absolut glaubwürdig und einfühlsam beschrieben. Bloß würde ich ihn, während er säuft und sich bemitleidet und sich aufführt wie ein Vollidiot, am liebsten packen und schütteln, auf dass er endlich aufwachen und sich seinem Schmerz stellen möge. Vielleicht muss ich mich als Frau automatisch ein bisschen mit der blassen Nina identifizieren, vielleicht tut sie mir einfach nur leid. Womöglich hab ich auch keine Geduld für Jungspunde, die nicht den Mumm haben, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Das ist natürlich höchst subjektiv. Daran, dass Dezemberfieber ein gutes Buch ist, ändert das nichts. Tobias vom Buchrevier, der mich auf dieses Buch gebracht hat, hat Recht, wenn er schreibt: „Aber können diese Newcomer auch schreiben? Nach den ersten Seiten von Dezemberfieber atmete ich befreit durch. Ja, zumindest Frank Rudkoffsky kann es. Sehr gut sogar.“

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Dezemberfieber von Frank O. Rudkoffsky ist erschienen im Verlag duotincta (ISBN 978-3-946086-02-4, 316 Seiten, 16,95 Euro). Hier findet ihr noch eine Besprechung bei Literaturen.