Paola Capriolo: Der stumme Pianist

Die berührende Sprache der Musik
Als Nadine, Krankenschwester in einer psychiatrischen Klinik am Meer, am Strand einen Mann findet, verwirrt und in einen Frack gekleidet, lässt sie ihn dorthin bringen, wo sie arbeitet. Eine gute Entscheidung, wie es scheint, braucht der Gestrandete doch offenbar Hilfe und Betreuung. Er verschanzt sich hinter einem eisenharten Schweigen, das niemand lockern kann: „Jede weitere Annäherung wurde durch sein hartnäckiges Schweigen verhindert, ein Schweigen nicht nur des Mundes, sondern des ganzen Körpers, von dem niemals irgendeine bedeutungsvolle Äußerung oder Geste ausging, ja nicht einmal eine dieser spontanen Bewegungen, die etwas Licht auf die inneren Vorgänge werfen können.“ Als der rätselhafte Mann dann doch eine Regung zeigt und ein Klavier zeichnet, wird ihm der unbenutzte Flügel der Klinik zur Verfügung gestellt. Fortan spielt er jeden Abend, und er spielt wahrlich meisterhaft, seine Musik lockt die Mitpatienten an, löst Gefühle in ihnen aus, bricht ihre Schutzpanzer auf. Die Medien interessieren sich für den stummen Pianisten, dessen Foto veröffentlicht wird, Briefe mit vermeintlichen Hinweisen treffen ein. Nadine würde gern sein Geheimnis ergründen, ihm näherkommen, aber sie prallt an ihm ab, wird von ihm nicht einmal wahrgenommen: „Soweit Nadine verstanden hatte, gehörte er keinem Milieu, keiner Klasse an; er war plötzlich in ihre Mitte gefallen wie ein Meteor von fernen Sternen her, und ebenso plötzlich würde er wieder in einer Fremdheit verschwinden, die so absolut war, dass sie sogar die Phantasie einer unersättlichen Klatschspaltenleserin herausforderte.“ Er bleibt ein Mysterium, der Unbekannte, seine Musik ist seine Sprache – doch verstehen kann sie niemand.

Musik strömt aus diesem Buch, eine Musik aus Worten. Virtuos ist ein Adjektiv, das in solchen Fällen gern bemüht wird, und es passt ganz ausgezeichnet auf den Stil der italienischen Autorin Paola Capriolo, die in Der stumme Pianist eine wahre Begebenheit zum Anstoß für einen fiktiven Roman genommen hat: 2005 wurde in Kent, England, ein schweigender Mann gefunden, die Suche nach seiner Identität wurde zum Medienhype. Manche Stimmen behaupten, er sei gar kein Pianist gewesen und habe immer nur dieselbe Taste angeschlagen, Paola Capriolos Schweigender ist auf jeden Fall ein hervorragender Klavierspieler. Konzentrische Kreise zieht die Autorin rund um ihren Schiffbrüchigen: Er ist der Stein, der ins Wasser fällt, und die Wellen, die er schlägt, berühren die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld – Nadine, die sich hingezogen fühlt zu ihm, den behandelnden Arzt, der in Briefen an einen ehemaligen Kollegen von seinem aktuellen Fall berichtet, Mrs. Doyle, die ihren kleinen Sohn getötet hat, den Buchhalter Brown, den die Zahlen verrückt gemacht haben, und den alten Herrn Rosenthal, der im Konzentrationslager so Schlimmes erlebt hat, dass er sich vor seinen Träumen fürchtet. Sie sind Zerbrochene, diese Menschen in dieser Klinik, und keine Melodie der Welt kann sie heilen. Aber die zarten Töne, die forschen Klänge, die der Pianist dem Steinway entlockt, haben therapeutische Wirkung und helfen den Patienten, sich zu öffnen, zu reden. Der Klavierspieler dagegen schweigt, er ist der stille, feste Kern in diesem Roman, rund um ihn wird geplappert, gemurmelt, geschrien, die Medien ereifern sich, er jedoch ruht fest in seinem Geheimnis, dessen Mauern er nicht verlässt, er hat keinen Platz sonst auf der Welt: „So absurd es auch erscheinen mag, ich habe das Gefühl, dass das Zuhause des Jungen sich genau hier befindet, zwischen den hohen staubigen Glasscheiben des Wintergartens, wo der alte Steinway jeden Abend wie eine eifersüchtige Ehefrau auf seine Rückkehr wartet.“ Neben diesen Berührungen und Anstößen in einer Handvoll Menschen legt Paola Capriolo weitere Kreise um ihren stummen Pianisten: In Briefen, die aus allen Himmelsrichtungen kommen, stellt sie durch die schreibende Hand verschiedener Leute Theorien auf, wer der Gestrandete sein könnte. Sie lässt ihn immer wieder in eine andere Haut schlüpfen, doch keine scheint zu passen. Nur vor dem Klavier ist er an seinem Platz, ein Stein bleibt er, undurchdringlich. Und so ist Der stumme Pianist ein stimmungsvolles, grandios geschriebenes, vielschichtiges und nachdenkliches Buch über die Kraft der Musik, die, so wirkt es, in allen etwas auslöst – außer in dem einen, der sie schenkt, der wegen all der Töne, die durch ihn wandern, die ihn brauchen als Medium, verstummt ist.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
für mich das schönste Cover des Jahres 2011. Der Umschlag ist transparent, auf dem Buch selbst befinden sich Strand, Meer und Himmel, und wenn man das darüberliegende Bild entfernt, verschwindet die aufgedruckte Gestalt.
… fürs Hirn: Grauen, pures Grauen ob der Geschichten, die sich rund um die Insassen der Klinik entblättern.
… fürs Herz: Nadine, die so menschlich ist in diesem Reigen an Personen, gierig nach Aufmerksamkeit, sensationslüstern und zutiefst einsam.
… fürs Gedächtnis: die wunderbare Stimmung des Buchs, ruhig, bedächtig, märchenhaft, außerhalb von aller Welt, eine Atmosphäre, die von den Gefühlen der Menschen für Musik erzählt – und dem tiefen Unverständnis dafür, woher ihr Zauber eigentlich rührt.

Der stumme Pianist von Paola Capriolo ist erschienen bei C. Bertelsmann (Edition Elke Heidenreich, ISBN 978-3-570-58016-5, 19,99 Euro, 208 Seiten).

4 Gedanken zu “Paola Capriolo: Der stumme Pianist

  1. caterina schreibt:

    Ein wahrlich maerchenhaftes Buch. Ich mochte vor allem die vielen kleinen Geschichten innerhalb der Geschichte – diejenigen der Patienten ebenso wie diejenigen der Verfasser der Briefe. Es sind Geschichten voller Melancholie und manches Mal voller Grauen, die allesamt im schmerzlich virtuosen Klavierspiel des stummen Pianisten Ausdruck finden.

  2. Mariki schreibt:

    Das ist wirklich ein ganz facettenreicher Reigen an Geschichten. Sehr unterschiedlich und sie zeigen, wie ich finde, das Talent der Autorin, vielseitig zu sein. Wie ein Kaleidoskop wirkt das, in der Mitte steht der stumme Pianist, und man bekommt so viel Information über ihn – während man gleichzeitig gar nichts über ihn erfährt, seine Gestalt bleibt stets verschwommen.

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