„Stanotte vidi un’immensità di stelle“ *
„Castagneto hatte schon immer so ausgesehen, als husche hier ein Geheimnis zwischen Haus und Bäumen hin und her.“ Und Geheimnisse gibt es in dieser Familie viele, seit Jahrzehnten machen sie Urlaub im Tessin, in einem Sommerhaus neben dem Castagneto: Matti, Ina, Judith und Peter. Inzwischen ist Matti tot, Judith ist verheiratet und hat Ina zur Großmutter gemacht, Luzi und Luna heißen die Kleinen, die die Gegend erkunden, den Duft des Sommers atmen, durch Wald und Wiesen streifen. Hinter der Fassade der liebenden Familie kichern die Geheimnisse, vor denen Ina die Augen verschließt: „Immer machte sich Ina Bilder und hängte sie über die Realität.“ Sie schreibt jeden Sommer ein Ferienheft, aber was die Familie wirklich bewegt, steht da nicht drin. Zum Beispiel, dass Peter spielsüchtig und am Ende ist: „Salome liebte er nicht, Salome mochte er, so wie man seine Lebensretterin eben mag. Zwar konnte er mit ihr Liebe machen, aber die gemacht Liebe war nur so süß wie ein Stück Zucker im Tee, sie zerging rasch. Es gab zwei Frauen, die er hätte lieben mögen, aber er hatte sie verspielt. Was wollte er. Spielen, sonst nichts.“ Seine Schwester Judith ist sich der Liebe zu ihrem Ehemann Jens nicht mehr sicher: „Sie war die Schuldige, die in ein anderes Bett lief, an einem Stück Zitrone lutschend, damit ihr Mund frisch war für das Böse.“ Und der größte Geheimniskrämer war Jahre zuvor Vater Matti: „Er fotografierte Ina und die Kinder und die Zeit, die kurz stillstand, und die Lichtsplitter, die zwischen den Nussbaumblättern so ausgeregt waren wie er wegen Riccarda.“ Noch einmal will Ina alle beisammen haben, vielleicht ist es der letzte Sommer im Tessin – und vielleicht ist es Zeit, dass die Geheimnisse endlich gelüftet werden …
„Die Stille hat mich geweckt, dachte Ina am frühen Morgen, die Stille will gehen.“ So sind die Sätze von Angelika Waldis: sanft, klug, wohlklingend, von unaufgeregter Eleganz. Sie kommen ohne Glamour und ohne Klimbim aus, sie sind schlicht, aber kraftvoll, ehrlich und amüsant: „Matti trug Judith auf den Schultern, Ina hatte sich als Trage für Peter ein Tischtuch umgebunden und trug ihn darin wie einen zarten Mittagsbraten.“ Die mehrfach ausgezeichnete Schweizer Autorin erzählt in dem schmalen Bändchen Einer zu viel von einer Familie, die so ist wie alle Familien: nach außen glänzend und schön wie ein Holztisch, aber innen nagt der Wurm. Fünf Perspektiven gibt es, fünf Personen kommen zu Wort, sie höhlen den Schein der Familie aus, zeigen ihr Skelett, offenbaren ihre Geheimnisse. Das geschieht auf eine Art, die so leicht wirkt wie der Flügelschlag einer Fliege, so selbstverständlich wie das Einsetzen eines Sommerregens. Fünf Punkte hätte ich diesem Roman gegeben, wäre das größte Geheimnis, das sich seinen Weg ans Licht bahnt, nicht so seifenopernmäßig gewesen. Ansonsten spaziere ich leichtfüßig durch dieses Buch, schaue im Sommerhaus in alle Zimmer, lerne die Familienmitglieder mit ihren Wünschen und Albträumen kennen, höre die Kinder lachen und die Erinnerungen ächzen, und am Ende verlasse ich sie mit einem Lächeln, indem ich leise und unbemerkt die Tür schließe.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: nun ja, schön ist das Cover nicht, recht banal eher.
… fürs Hirn: der Gedanke, dass die Menschen es vielleicht einfach nicht können – monogam zu sein.
… fürs Herz: der Schmerz, der mit Treue und Untreue einhergeht.
… fürs Gedächtnis: die Stimmung dieses Buchs, die an einen geheimnisvollen, heißen, trägen Sommer erinnert.
* „Heute Nacht habe ich eine Unmenge von Sternen gesehen“