In Nichts ertrinken
Es ist eine enge und merkwürdig ungesunde Beziehung, die Ella und Thomas miteinander verbindet: Von frühester Kindheit an schmiegen die Geschwister sich aneinander, um sich vor der Kälte zu schützen, die ihre Mutter Käthe ausstrahlt. Ungewollt sind sie und ungeliebt, eine Last am Bein der Bildhauerin, genau wie die später geborenen Zwillinge, die fast die ganze Zeit im Heim verbringen. Gefühle bringt Käthe allein für ihre Kunst auf – und für die Idee hinter der DDR, der sie sich ganz verschreibt, sie will „dabei sein und dazugehören zu einem Deutschland, das sie noch vor gut zwanzig Jahren ausgewürgt hatte, Menschen wie sie nicht mehr gebraucht, nicht mehr gewollt, vertrieben, verjagt und umgebracht hatte, und das sich jetzt nur mühsam erholte“. Thomas lernt fleißig und schreibt Gedichte, Ella setzt mit 16 Jahren auf ihre weiblichen Reize, bereut das aber schnell: „Es gibt nur einen Mann, mit dem ich glücklich sein kann. Ella flüstert in Thomas‘ Ohr, und das bist du. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Alle anderen wollen mich anfassen, mir die Zunge in den Mund stecken, mich ficken, mir wehtun, Ella schüttelte sich, ekelhafte Gier, die sie treibt, wie Tiere.“ In der Mutter finden sie keine Fürsprecherin, und während Ella ziellos durchs Leben tänzelt, ganz nah am Abgrund zum Tod und gleichzeitig rasend eifersüchtig auf alles, was Thomas erlebt, fühlt dieser sich zusehends eingesperrt hinter der Mauer und all seiner Möglichkeiten beraubt. Er bekommt vielleicht einen Studienplatz für Medizin, den er gar nicht will, und muss dafür ein Praktikum absolvieren. Er verliebt sich in die Krankenschwester Marie, und das feine Gebilde rund um Thomas und Ella, das ein Windhauch ins Wanken bringen kann, stürzt ein.
Rücken an Rücken sitzen die Geschwister Ella und Thomas, um einander zu stärken, zu schützen, zu überleben. Wendet sich einer von ihnen ab, fällt nicht nur der andere um – sondern beide. In ihrer gewohnt passgenauen, ausgewogenen Sprache erzählt die mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Autorin Julia Franck von einer Bindung, die so stabil ist wie ein Kartenhaus im Sturm, von Enttäuschung, Schmerz, Neid und Hilflosigkeit. Fehlende Mutterliebe ist das große Thema von Julia Franck, das sie bereits in Die Mittagsfrau auf eindrucksvolle Weise behandelt hat. Und obwohl mir der prämierte Roman sehr zugesagt hat, stört es mich, dass Rücken an Rücken ihm so ähnlich ist. Die Motive sind dieselben: eine fast unnatürlich lieblose Mutter, zwei Geschwister, die zusammenrücken und dennoch wahnsinnig unter der Gefühllosigkeit leiden (bei der Mittagsfrau waren es zwei Mädchen), und ihre daraus resultierende Unfähigkeit, selbst zu lieben. Während der Lektüre stehe ich auf Kriegsfuß mit Rücken an Rücken: Der brillanten Sprache wegen nähere ich mich diesem Buch an, nur um mich im nächsten Moment frustriert abzuwenden – weil es mir zum Beispiel zu klischeehaft ist, dass die Geschwister eine eigene Fantasiesprache erfinden oder weil ich es wenig glaubhaft finde, dass so gut wie jeder Mann, der das Haus betritt, Ella vergewaltigen will oder es tut. Dann wieder lese ich einen Satz wie jenen, als Thomas Marie trifft und ihren Hals bewundert: „Das Muster ihres Haaransatzes rührte ihn, die Symmetrie war von atemberaubender Schönheit, sie ließ ihn an Metallspäne im Magnetfeld denken“, und ich fühle mich wieder wunderbar wohl mit diesem Roman, nur um einige Seiten später erneut abgestoßen zu werden etwa von Thomas‘ Gedichten – die dem Nachlass eines jungen Mannes namens Gottlieb Friedrich Franck, des Onkels der Autorin, entnommen sind – , die mir gar zu pubertär, pathetisch und unheilschwanger erscheinen. So geht es dahin mit diesem Buch und mir, bis zum Ende, und während ich kurz vor Schluss entscheide, nur 2 Punkte zu geben, werden es mit der letzten Seite, dem letzten Satz doch 4, und erklären kann ich das genauso wenig wie verstehen. Es ist, als hätten wir einander die Hand gereicht, der Roman und ich, und wären versöhnt auseinandergegangen. Ich finde es schade, dass Julia Franck im Prinzip über das Gleiche schreibt wie in Die Mittagsfrau, die Charaktere nur in andere Rahmen einspannt, doch ich trage diese Figuren lange mit mir und denke an sie, spüre ihre Anwesenheit und ihre Verzweiflung. Thomas, der weich und nachgiebig wirkt, formbar, Ella, die wütend ist und stark – erst der Lauf der Dinge zeigt, wie sehr der erste Eindruck täuscht. Rücken an Rücken ist ein Buch, das sich hineinbohrt in den Kopf des Lesers, ihn nicht gleichgültig lässt, es fordert Kraft und gibt im Austausch Bewegung, Lebendigkeit, Gedankennahrung. Es brennt und macht hungrig, es ist wie ein juckender Ausschlag, es ist drastisch und Es stellt – eingebettet in die jüngere Geschichte Deutschlands – die Frage, was Liebe bedeutet und was Freiheit. Rücken an Rücken schildert die vielen Formen von Missbrauch und körperliche wie seelische Extremsituationen. Empfehlen würde ich es aber nur jenen, die Die Mittagsfrau nicht kennen.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein gutes, aber auch ein wenig langweiliges Cover.
… fürs Hirn: das große Thema Julia Francks: fehlende Mutterliebe und all die Tragödien, die davon ausgelöst werden.
… fürs Herz: das Ende. Es schmerzt am meisten an diesem Buch, das das Herz in seiner Gesamtheit sehr in Mitleidenschaft zieht, weil man das Buhlen der Kinder um die Aufmerksamkeit der Mutter kaum ertragen kann.
… fürs Gedächtnis: die gemischten Gefühle beim Lesen: Begeisterung und Enttäuschung gleichermaßen.
Rücken an Rücken von Julia Franck ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-022605-1, 19,95 Euro,
Danke für deine sehr eindrucksvolle Rezension, die mir den Roman noch einmal näher gebracht hat! Eigentlich hatte ich nach einigen negativen Rezension schon beschlossen, das Buch nicht mehr zu lesen. „Die Mittagsfrau“ konnte mich schon vor einigen Jahren nicht begeistern … jetzt gebe ich dem Roman vielleicht doch noch mal eine Chance!
Ich stehe diesem Buch immer noch sehr zwiegespalten gegenüber … einiges fand ich wunderbar, anderes hat mich regelrecht geärgert. Mir hat Die Mittagsfrau allerdings besser gefallen, wenn sie dich nicht begeistern konnte, wird das vermutlich Rücken an Rücken auch nicht gelingen, fürchte ich …
Dann lasse ich vielleicht doch lieber die Finger davon oder warte auf die Taschenbuchausgabe … 🙂
Rücken an Rücken ist ein schöner Titel, er passt gut zur Thematik, dieser ungewöhnlichen, zerbrechlichen Geschwisterliebe. Doch ich werde deinen Ratschlag beherzigen und meine Aufmerksamkeit zunächst der Mittagsfrau widmen, die mir nämlich auch noch fehlt.